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10.04.20 / Passionsspiele Oberammergau / Jesus kommt verspätet an / Die Pest im Mittelalter hatten die Oberammergauer überstanden, doch vor der neuzeitlichen Corona-Pest mussten sie kapitulieren

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 15 vom 10. April 2020

Passionsspiele Oberammergau
Jesus kommt verspätet an
Die Pest im Mittelalter hatten die Oberammergauer überstanden, doch vor der neuzeitlichen Corona-Pest mussten sie kapitulieren
Veit-Mario Thiede

Volksprobe auf der größten Freilichtbühne der Welt: 400 Kinder und Erwachsene haben sich zum Einzug Jesu in Jerusalem versammelt. Sie rufen: „Hosanna dem Sohn Davids! Gesegnet sei er, der kommt im Namen des Herrn!“ Das klingt noch ziemlich verhalten. Spielleiter Christian Stückl steht im Oberammergauer Passionstheater auf einem Tisch und feuert die Menge im oberbayerischen Dialekt an: „Stellt’s euch vor, da Jesus kimmt! Da Jesus kimmt!“ Aus 400 Kehlen donnert nun zu Stückls Zufriedenheit „Hosanna! Hosanna!“

Das war Mitte Februar. Inzwischen breitet sich das Coronavirus in Deutschland aus. Deshalb muss man sich fragen: „Kimmt da Jesus wirklich?“ Bisher gab es noch keinen Krankheitsfall in Oberammergau und den Nachbargemeinden. Gleichwohl arbeiten die Verantwortlichen Notfallszenarien aus. Sollten sich in den letzten Wochen Mitwirkende in Risikogebieten aufgehalten oder Kontakt zu Personen gehabt haben, die in solchen waren, werden sie von den Proben freigestellt. Lange herrschte Zuversicht, dass die Passionsspiele stattfinden. Und so übten die Darsteller weiter. Schließlich hat man die Massenszenen und kurz darauf die Einzelproben abgesagt. Doch alles Hoffen half nichts. Mitte März musste dann auch der für diesen Mai vorgesehene Premieren-Termin auf den 21. Mai kommenden Jahres verschoben werden.

Spielleiter Stückl, 1961 in Oberammergau geboren, ist Theater-Profi. Der Intendant des Münchner Volkstheaters hat als Gastregisseur Theater- und Operninszenierungen an der Staatsoper Hamburg, am Wiener Burgtheater und im Schauspielhaus Zürich geleitet. Regie führte er auch bei der Eröffnungsfeier der Fußball-WM 2006 in München. Die alle zehn Jahre aufgeführten Oberammergauer Passionsspiele leitet er zum vierten Mal. Dabei stützt er sich auf den Passionstext, den Ortspfarrer Daisenberger für die Spiele von 1860 verfasste. Aber jedes Mal überarbeitet er den Text. Denn „die Tradition muss sich fortentwickeln, um am Leben zu bleiben“, wie Pilatus-Darsteller Anton Preisinger erklärt. 

Zunächst befreite Stückl den alten Text von antijüdischen Ausfällen. Traditionell handelt das Spiel vom Leiden, Sterben und der Auferstehung Jesu. Diesmal will Stückl dessen Leben, Wirken am Rande der Gesellschaft und der Botschaft der uneingeschränkten Nächstenliebe größere Bühnenpräsenz verleihen. Doch Judas-Darsteller Martin Schuster weiß: „Im Endeffekt leben wir die Botschaft nicht, die Jesus uns vorgegeben hat.“

Zu den – hoffentlich – von Mai bis Oktober 2021 stattfindenden über 100 Aufführungen werden eine halbe Million Besucher aus aller Welt erwartet. Sie bekommen viele Novitäten geboten. Die Aufführung beginnt mit dem neu eingeführten Auftritt des Chores. Die Sängerinnen und Sänger stellen in einfacher bäuerlicher Kleidung die Oberammergauer beim Schwur von 1633 dar. Der besagt, alle zehn Jahre die Passion des Herrn aufzuführen, falls die Einwohner fortan von der Pest verschont bleiben. Im Jahr darauf lösten sie erstmals ihr Gelübde ein. Der Wechsel auf volle Zehnerjahre erfolgte 1680. 

Für die anstehende 42. Ausgabe wird das Bühnenhaus zur hellgrau verputzten Tempelanlage umgestaltet. Nach wie vor basiert die Passionsmusik auf Kompositionen von Rochus Dedler (1779–1822). Aber der musikalische Leiter Markus Zwink hat sie bearbeitet und um neue Stücke bereichert.

Keine Rolle mehr spielt das mit 200 Jahren älteste Requisit der Spiele: der Abendmahlstisch. Am neuen Tisch tragen Jesus und Judas ein Streitgespräch aus, Die 21 Hauptrollen sind doppelt besetzt. Ebenso wie der Judas-Darsteller Cengiz Görür ist der zweite Spielleiter und obendrein mit der Rolle des Nikodemus bedachte Abdullah Karaca Muslim. Denn beim einst erzkatholischen Passionsspiel herrscht inzwischen religiöse Toleranz.

Ob Christ, „Andersgläubiger“ oder Konfessionsloser: Mitmachen dürfen alle Oberammergauer Kinder und alle Erwachsenen, die seit mindestens 20 Jahren ihren ersten Wohnsitz im Ort haben. Rund 2000 Spielberechtigte beteiligen sich. Auch wer hinter den Kulissen arbeitet, die Kleider näht, Garderobiere oder Platzanweiser ist, gilt als Mitspieler.

Dieses Jahr sollten den Spielen Jugendtage vorangestellt werden, zu denen man bei zwei Aufführungen mit über 8000 jungen Gästen aus aller Welt gerechnet hatte. „Der“ Passion, wie die Einheimischen sie nennen, hat eine – durch eine lange Pause unterbrochene – Spieldauer von fünf Stunden. Jesus-Darsteller Frederik Mayet vermutet: „Für nicht wenige Besucher ist es wie eine Pilgerfahrt.“

Die traditionell enge Bindung der Passionsspiele an die katholische Kirche hat sich gelockert. Von der Erneuerung des Patronatsvertrags mit dem Erzbistum München und Freising sah der Gemeinderat ab. Dafür herrscht ökumenisches Passionsmiteinander. Erstmals nämlich erhielt „der“ Passion einen ökumenischen Segen, erteilt vom Erzbischof Marx und dem evangelischen Landesbischof Bedford-Strohm. Ob der doppelte Segen wohl hilft, dass die Spiele stattfinden?

Lesetipp Viola Schenz: „Die Geschichte der Oberammergauer Passionsspiele“, Volk Verlag, München 2019, 29,90 Euro