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17.04.20 / Bildung in Zeiten von Corona / Die meisten der derzeit geschlossenen Schulen, Ausbildungsstätten und Hochschulen halten mit digitalen Lernmethoden einen Notbetrieb aufrecht. Auf Dauer kann dieses „E-Learning“ jedoch den klassischen Unterricht keinesfalls ersetzen

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 16 vom 17. April 2020

Bildung in Zeiten von Corona
Die meisten der derzeit geschlossenen Schulen, Ausbildungsstätten und Hochschulen halten mit digitalen Lernmethoden einen Notbetrieb aufrecht. Auf Dauer kann dieses „E-Learning“ jedoch den klassischen Unterricht keinesfalls ersetzen
Josef Kraus

In Zeiten wie diesen, in Corona-Zeiten also, ist das „Netz“, sind digitale Medien ein Segen. Zunächst – und vordergründig. Auf das „Und später?“, auf die Folgen und die Kollateralschäden kommen wir ebenfalls rasch zu sprechen. 

Beginnen wir mit dem „Segen“ digitaler Medien in „Corona-Zeiten“: Hunderttausende von Berufstätigen, die nicht im realen Vis-à-Vis mit anderen Menschen interagieren müssen und in dieser Hinsicht auch gesundheitlich privilegiert sind, agieren vom „Home-Office“ aus. Großeltern und Enkel, die sich derzeit meiden sollen, können miteinander nicht nur telefonieren, sondern „skypen“, „Bildanrufe“ tätigen, die neuesten „Kunstwerke“ und Basteleien per Bild austauschen und so weiter. Nur mit dem Austausch des von Oma so prächtig gekochten Lieblingsgerichts der Enkel klappt es nicht. Kindern und Jugendlichen, die nicht ins Freie gehen und sich nicht mit Freunden treffen können, bieten die digitalen Medien Möglichkeiten zur Echtzeit-Kommunikation und zum Vertreiben von ätzender Langeweile. Per Skype kann der reale, gefährliche Besuch eines Angehörigen im Krankenhaus ins Netz verlegt werden. Sogar Arztkonsultationen können – gegebenenfalls verbunden mit einem Blick in den Rachen – ins Netz verlegt werden. In Italien können – traurig, aber wahr – Angehörige auf diesem Weg von einem Sterbenden Abschied nehmen. 

Einstieg in die „Big-Brother“-Gesellschaft?

Die Risiken und Gefahren wollen wir nicht verschweigen, auch wenn man angesichts der akuten Lage davon nichts wissen will: Eltern, für die es als Beschäftigte im Handel, in der Pflege oder bei Polizei und Bundeswehr kein Home-Office gibt, können sich via Netz quasi als „Big Brother“ im wahrsten Sinn des Wortes ein Bild davon machen, was die zu Hause Alleingelassenen gerade anstellen, oder sie können mittels GPS-Tracking den Aufenthaltsort ihrer Kinder orten. Recht und gut? Das gläserne und an der elektronischen Nabelschnur gegängelte Kind also! Es droht dies zu einem Einstieg in einen „Big-Brother“-Termitenstaat zu werden. Siehe Südkorea: Dort können via GPS Corona-Infizierte verortet und notfalls zur Raison gebracht werden. Gesundheitsminister Spahn hat bereits ähnliche Überlegungen im Kopf. 

Angesichts der Schulschließungen infolge der Corona-Pandemie wurde der ausgefallene Unterricht vielfach ins Netz verlegt, um einen Totalausfall zu vermeiden. Das ist, zumal für Schüler, die im späten Frühjahr oder im frühen Sommer ihre Abschlussprüfungen vor sich haben, durchaus wichtig. Und tatsächlich bemühen sich die Einzelschulen, viele Einzellehrer, die Rundfunk- und Fernsehsender, die Schulbuchverlage um ein Bildungs- und Unterrichtsangebot für Schüler. Dass Entsprechendes auch in der beruflichen Bildung und an den Hochschulen stattfindet, ist selbstverständlich; hier kommt als Vorteil hinzu, dass es um ältere Heranwachsende geht, die sehr „netzaffin“ sind und mit den digitalen Möglichkeiten in der Regel vernünftig umzugehen wissen.

Verschiedene Bildungskanäle

Wie aber schaut ein digitales „Home Schooling“ aus? Es erfolgt teilweise per E-Mail, über verschiedene Messenger-Dienste oder schuleigene Portale, in die sich die Kinder und Jugendlichen einloggen können. Oder über Youtube-Videos, die Lehrer – unterrichtend vor leeren Klassen – als 45-Minuten-Einheiten aufnehmen und ins Netz stellen. Oder „life“ über Skype-Tele-Unterricht – einschließlich Interaktion vonseiten der Schüler in Richtung Lehrer, wenn Schüler etwa eine bestimmte Geometrie-Kurvendiskussion im Bild dem Lehrer – diesmal ohne Rotstift ausgestattet – vorzeigen sollen. Oder, oder, oder …. Der Kreativität sind keine Grenzen gesetzt.

Doch was hier wie das Hohelied auf das „E-Learning“ daherkommt, ist keines. Allein hinsichtlich der Masse kann es das nicht sein. Durch die Schließung von bundesweit 42 000 Schulen mit ihren rund elf Millionen Schülern fallen nämlich derzeit pro Woche rund 15 Millionen Unterrichtsstunden aus. Digitales „Home Schooling“ also? Wir sollten nicht ganz beiseitelassen, dass bei weitem nicht alle elf Millionen Schüler zu Hause die entsprechende Hard- und Software verfügbar haben, dass es hier ein erhebliches soziales Gefälle gibt, und dass bei einem misslingenden „Handling“ mit der Software ganze Familien in Aufregung und ins Chaos gestürzt werden.

Fragwürdige Visionen

Aber auch davon abgesehen, kündigt sich hier ein bedenkliches Modell von „Bildung“ an, das sich über „Corona“ hinaus fortsetzen könnte. Denn die Schulschließungen könnten denjenigen – gerade auch den Nutznießern in der IT-Industrie – Nahrung geben, die schon seit Jahren meinen, Bildung müsse digitalisiert werden. So als müsse es jetzt nach dem „Nürnberger Trichter“ des Jahres 1647 nun einen digitalen Lerntrichter geben. Tatsächlich sind ja schon lange vor „Corona“ inflationär entsprechende Visionen im Umlauf: „Edutainment“, „Home Learning“, „just-in-time-knowledge“, „knowledge-machines“, „instant-learning“, „learn-line“, „Multimedia-Learning“, „multimedialer Lernspaß“, „Online-learning“, „Tele-learning“, „virtuelles Klassenzimmer“ und so weiter. Statt „Brave New World“ („Schöne neue Welt“), wie der 1932 erschienene Roman von Aldous Huxley hieß, „Brave New School“ sozusagen! 

Dabei müsste Bildungspolitiker und Pä-dagogen etwas anderes bewegen, vor allem die Frage, ob der junge, verkabelte oder WLAN-mäßig vernetzte Multimedia-Mensch ab einem gewissen Stadium des Informationskonsums überhaupt noch die Fähigkeit besitzt, zwischen faktischer und virtueller Realität zu unterscheiden, oder ob er nicht –weil Computer ja keine Welt außerhalb der eigenen kennen – bereits einer höchstselektiven „Windowisierung“ von Wirklichkeit ausgesetzt ist. So gesehen, darf und sollte gerade Schule den Mythos der Informationsgesellschaft entzaubern. Von „Wissensgesellschaft“ kann man ja wohl nicht sprechen, weil das in Zeiten eines allgegenwärtigen Niedergangs von Bildung ein Euphemismus wäre. 

Der Philosoph und Dichter Günther Anders (1902–1992), der sich zeit seines Lebens und Schaffens mit der schwindenden Humanität infolge der technischen Modernisierung des 20. Jahrhunderts befasste, würde mit Blick auf die digitalen Medien zudem vor einer Ikonomanie, vor einer Bildsucht, warnen. Diese Warnung präzisiert Anders in seiner Essay-Sammlung „Die Antiquiertheit des Menschen“ von 1956 bzw. 1980. Darin belegt er mit Blick auf das Fernsehen (um wieviel mehr erst geltend bei digitalen Medien): „Alles Wirkliche wird phantomhaft, alles Fiktive wird wirklich.“ 

Rückkehr zum klassischen Unterricht

Wir müssen jedenfalls aufpassen, dass wir unsere jungen Menschen nicht zu Infokraten trimmen, die von Häppchen-Informationen beherrscht werden, sondern die Kommunikation als etwas Menschliches und nicht als etwas Technisches erfahren und praktizieren. Sonst könnte das Ergebnis multimedialer Vernetzung eine Art Kasper-Hauser-Syndrom sein. Die Corona-Einschränkungen lassen grüßen. 

Der klassische Unterricht im Lehrer-Schüler-Gespräch muss deshalb zum frühest möglichen Zeitpunkt nach einem Abflachen der „Corona-Kurven“ wieder im Zentrum schulischen Lernens stehen. Ja, es geht in der Schule um Vis-a-vis-Kommunikation, und es hat schon seinen Sinn, wenn ein Schüler – grimmig, staunend, gelangweilt oder ungläubig – in das Gesicht eines Lehrers und nicht auf einen Bildschirm schaut. Der Lehrer weiß darauf zu reagieren, der Computer nicht. Ein sogenanntes elektronisches Klassenzimmer dagegen wäre ein verarmtes, steriles Klassenzimmer. In ihm gingen Information und Unterhaltung zudem eine fragwürdige Allianz ein.

Mehr als das „Handling“ von Technik

Gewiss gehört die Fähigkeit zum Umgang mit neuen Informationsgeräten und -kanälen heute zu den notwendigen Kulturtechniken. Im Vordergrund der sogenannten informationstechnischen Grundbildung darf aber nicht das technische „Handling“ stehen. Sonst würde damit etwas gefördert, was Günther Anders lange vor der Digitalisierungswelle als das Dasein eines kollektiv vereinzelten Massen-Eremiten bezeichnet hatte. Der 2011 verstorbene Apple-Mitbegründer Chef Steve Jobs und Microsoft-Gründer Bill Gates wussten sehr wohl, warum sie ihren Kindern Tablets und Smartphones vorenthielten. Zudem fehlt es bis zum heutigen Tag weltweit an Beweisen für eine positive Wirkung digitalen Lernens – trotz intensivsten Bemühens der Digitaleuphoriker. 

Unter’m Strich: „online“ oder „offline“ – Welche Schule brauchen wir? Hier die Antwort – auf die wir uns gegen alle Nutznießer und Trittbrettfahrer der Digitalisierung von Schule nach der Wiedereröffnung unserer Schulen besinnen müssen: Wir brauchen weniger „online“ und mehr „offline“, damit die Digitalisierung nicht zur Lern- und Entwicklungsblockade für junge Menschen wird und damit unsere jungen Leute bei aller Euphorie um „Digital natives“ nicht zu digitalen Naivlingen werden.

Josef Kraus war von 1987 bis 2017 Präsident des Deutschen Lehrerverbandes und von 1991 bis 2014 Mitglied im Beirat für Fragen der Inneren Führung des Bundesministers der Verteidigung. Zu seinen Büchern gehört „Wie man eine Bildungsnation an die Wand fährt. Und was Eltern jetzt wissen müssen“ (Herbig 2017).