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24.04.20 / Kriegsgefangenschaft / Ein Kampf um die schiere Existenz / Gerhard Bahr geriet als Jugendlicher in Gefangenschaft – Erlebnisse als Zeugnis für die Nachwelt

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 17 vom 24. April 2020

Kriegsgefangenschaft
Ein Kampf um die schiere Existenz
Gerhard Bahr geriet als Jugendlicher in Gefangenschaft – Erlebnisse als Zeugnis für die Nachwelt
Dagmar Jestrzemski

Anfang 1949 kam der damals 21-jährige Gerhard Bahr nach vier Jahren Gefangenschaft in einem sibirischen Arbeitslager mit einem der ersten Krankentransporte aus der UdSSR zurück nach Berlin zu seinen Eltern. Jetzt, gut 70 Jahre nach seiner Heimkehr, liegt sein erschütternder Erlebnisbericht über Stalins Lagerhölle als Buch vor. Es trägt den Titel „Nicht alle waren Lumpen. Erlebnisse in sowjetischer Haft 1945–1949“ und erschien im Eigenverlag von Ursula Bahr, der Witwe des 2012 verstorbenen Autors. Die einzelnen Kapitel sind mit künstlerisch anspruchsvollen Zeichnungen des Autors und einer Planskizze mit den Etappen seiner Gefangenschaft ausgestattet.

Gerhard Bahr wurde 1928 im ostpreußischen Eisenbart, Kreis Bartenstein, geboren und wuchs in Berlin auf. Er studierte Kunst und Architektur und war zuletzt von 1968 bis 1990 in Hamburg als Stadtplaner tätig. Seine vergnüglichen bis nachdenklichen Bücher „Über den Pregel“, „Spurensuche in Ostpreußen“ und „Berlin-Zeitensprünge“ erschienen ebenfalls im Eigenverlag und sind beim Rautenberg Verlag bestellbar. Die beiden erstgenannten Bücher wurden in der PAZ rezensiert. 

Erstaunlich detailliert, lebendig und überraschenderweise humoristisch ist sein erzählerisch gestalteter Bericht über seine qualvollen Erfahrungen in verschiedenen Gefängnissen und im Arbeitslager von Stalinsk (früher Novo-Kusnezk) in Westsibirien. Die Aufzeichnungen wurden Anfang der 1980er Jahre vollendet. Sie zeugen von einer außergewöhnlichen Beobachtungs- und Kombinationsgabe des Autors, was ihm, neben seiner Gesundheit und anderen glücklichen Umständen, in vielen Situationen das Leben gerettet hat. Selbst in seiner verzweifelten Lage beobachtete Bahr mit wachem Blick alle Vorgänge um ihn her. Er merkte sich viele Geschichten und Erfahrungsberichte, die er von seinen deutschen Mitgefangenen hörte. 

Die Darstellung beginnt mit der Abkommandierung des damals 17-jährigen Autors zu den Werwölfen kurz vor Kriegsende. Im April 1945 wurde er zusammen mit einigen anderen Fallschirmspringern hinter der Oderfront aus dem Flugzeug abgeworfen. Der Auftrag lautete, den Vormarsch der sowjetischen Streitkräfte gegen die Reichshauptstadt zu beobachten und der geheimen Einsatzzentrale zu melden. Wie fast alle Teilnehmer dieses Einsatzes fiel Bahr den Russen in die Hände. Während der anschließenden Verhöre hatte er noch auf einen Freispruch gehofft. In Schwiebus 

[?wiebodzin] wurde das Urteil verkündet: zehn Jahre Arbeitslager wegen Spionage. Damit begann sein Kampf um die schiere Existenz, der vier lange Jahre dauern sollte. 

Nach einem mehrmonatigen Gefängnisaufenthalt in Brest-Litowsk und Orel sowie einer überstandenen Typhuserkrankung in Prokopjewsk kam er in das Lazarett des Kriegsgefangenenlagers von Stalinsk. Zuvor war es ihm gelungen, seinen Status als Verurteilter zu verschleiern, indem er sich als Kriegsgefangener und ehemaliger Landser ausgab. Seitdem musste er befürchten, von Mitgefangenen erkannt und verraten zu werden, unter anderem von solchen, die er bei den Antifaschismus-Lehrgängen traf. In den Stalinsker Steinkohlebergwerken arbeiteten die Lagerinsassen mit unverantwortlich hohem Risiko rund um die Uhr. Im Sommer 1947 wurde Bahr „bergwerksverwendungsfähig“ geschrieben. Eingehend schildert er die haarsträubenden Zustände unter Tage. Er verletzte sich schwer und erkrankte an einer Halsdrüsen-TBC. Im Herbst 1948 wurde er in ein Lazarett in Wolsk an der Wolga verlegt und schließlich nach weiteren nervenaufreibenden Verhören im Januar 1949 entlassen.  

„Dieses Buch habe ich für meine Kinder und die Jugend im Allgemeinen geschrieben. Es bietet die Möglichkeit, sich über das Schreckliche, was ich selbst als Jugendlicher bei Ende des Krieges und danach in Gefangenschaft erlebt habe, zu informieren. Die Schilderung meiner Erlebnisse habe ich dem Zeitablauf entsprechend aneinandergereiht. Keine Aussage ist erfunden – lediglich Personennamen habe ich vorsorglich geändert. Ich habe beim Schreiben nur ein einziges Ziel verfolgt: aufzuzeigen, wie schrecklich grausam diese Zeit war“, notierte Gerhard Bahr in seinen Vorbemerkungen.

Gerhard Bahr: „Nicht alle waren Lumpen. Erlebnisse in sowjetischer Haft 1945-1949“, Copyright 2019 Ursula Bahr, zu bestellen bei: Rautenberg Verlag, Stuttgart, broschiert, 214 Seiten, 14,80 Euro