26.04.2024

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08.05.20 / Die Paradoxie eines Gedenktags / Wie hältst du es mit dem 8. Mai? So lautet die seit Jahrzehnten umstrittene Gretchenfrage der deutschen Erinnerungspolitik. Eine allgemein zufriedenstellende Antwort gibt es kaum. Letztendlich hängt das Urteil immer vom jeweiligen Standpunkt ab

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 19 vom 08. Mai 2020

Die Paradoxie eines Gedenktags
Wie hältst du es mit dem 8. Mai? So lautet die seit Jahrzehnten umstrittene Gretchenfrage der deutschen Erinnerungspolitik. Eine allgemein zufriedenstellende Antwort gibt es kaum. Letztendlich hängt das Urteil immer vom jeweiligen Standpunkt ab
Burghard Gieseler

In diesen Tagen begehen wir den 75. Jahrestag des Kriegsendes am 8. Mai 1945. Über die Deutung dieses Datums ist in den vergangenen Jahrzehnten heftig gerungen worden. In jüngster Zeit wurde die Forderung, den 8. Mai als „Tag der Befreiung“ zum staatlichen Feiertag zu erklären, immer vehementer erhoben. Die deutsche Hauptstadt Berlin hat ihn – als einziges Bundesland – anlässlich des runden Jahrestages tatsächlich zum einmaligen Feiertag bestimmt. 

Die pauschale Bezeichnung „Befreiung“ zu hinterfragen ist erkennbar unerwünscht. Wer es dennoch tut, muss sich zunehmend rechtfertigen. Da aber das kritische Hinterfragen in einer Demokratie nicht nur erlaubt, sondern notwendig ist, sei hier dennoch die Frage gestellt: Ist der 8. Mai ein Tag der Befreiung?

Eine Frage des Standpunkts

Die Antwort lautet: ja und nein – und hängt wesentlich davon ab, aus welcher Perspektive und unter welchem Gesichtspunkt man diesen Tag betrachtet. Wenn wir den 8. Mai aus heutiger Perspektive rückblickend bewerten, ja, dann war er die Befreiung von dem verbrecherischen NS-Regime, das für Holocaust, Gewaltherrschaft, Krieg steht – und damit letzten Endes auch für den Verlust der deutschen Ostprovinzen verantwortlich war. Wir, die wir heute leben, sind dankbar dafür, dass wir nicht unter einem Regime leben müssen, das Menschen in Konzentrationslagern interniert und sie dort umbringen lässt und das seine Nachbarn mit Krieg überzieht.

Wenn wir den 8. Mai aber aus damaliger Perspektive historisch betrachten, nein, dann war er für die meisten Deutschen und auch für unsere östlichen Nachbarn, die unter stalinistische Zwangsherrschaft kamen, keineswegs eine Befreiung.

Mit dem Wort „Befreiung“ verbinden wir Bilder von KZ-Insassen, die, halb verhungert und völlig entkräftet, aus müden Augen ihren Befreiern fassungslos, aber voller Dankbarkeit entgegenblicken oder – etwa bei der Befreiung von Paris – von alliierten Soldaten mit Blumen am Stahlhelm, die von ihren Fahrzeugen herab einer dankbar jubelnden Menge fröhlich zuwinken.

So war es in Ostpreußen nicht. Im Gegenteil. Im Januar 1945 brach über Ostpreußen und den gesamten deutschen Osten die Hölle auf Erden herein. Viele von denjenigen, die nicht rechtzeitig hatten fliehen können oder deren Treck überrollt worden war, wurden getötet, die Mädchen und Frauen wurden – oft mehrmals – vergewaltigt. Nicht zuletzt markiert der 8. Mai für die meisten Ostpreußen den schmerzhaften Verlust ihrer Heimat.

Schuldfragen

Von diesem und anderem Leid unserer Landsleute ist heute wenig bis gar nichts mehr bekannt. Die Fokussierung der deutschen Erinnerungspolitik auf die von Deutschen begangenen Kriegsverbrechen hat dazu geführt, dass von deutschen Opfern – zum Beispiel den Toten des alliierten Luftkriegs – kaum noch die Rede ist. So konnte es geschehen, dass in den letzten Jahren das Totengedenken am Jahrestag der Zerstörung Dresdens von Linksextremisten mit Parolen wie „Bomber-Harris, do it again!“ oder „Deutsche sind keine Opfer, sondern Täter!“ regelmäßig gestört wird. Ein Aufschrei der Empörung war in Politik und Medien leider kaum zu vernehmen.

Eine deutsche Kollektivschuld aber (wie sie derartige Parolen unterstellen) gibt es nicht. Schuld ist niemals kollektiv, sondern immer individuell und setzt eine bewusste Willensentscheidung zwischen „Gut“ und „Böse“ voraus. Zwar kann der Einzelne sich auch dadurch schuldig machen, dass er einem verbrecherischen Kollektiv beitritt (oder nicht aus ihm austritt), aber niemand wird dadurch schuldig, dass er in ein bestimmtes Volk hineingeboren wird oder ihm angehört.

Natürlich gibt es auch Abstufungen der Schuld. Sonst wäre im Strafgesetz für jedes Vergehen nur eine einzige Strafe notwendig. Diejenigen, die den Holocaust befahlen und durchführten, haben sich in ganz anderer Weise schuldig gemacht als diejenigen, die wegschauten, wo sie hätten hinschauen müssen, die schwiegen, wo ein mutiges Wort notwendig gewesen wäre. Gleichwohl haben sich auch diese schuldig gemacht. Aber eben durch ihr Wegschauen, durch ihr Schweigen – und nicht dadurch, dass sie Deutsche waren.

Kürzlich habe ich einen Erlebnisbericht gelesen, dessen Verfasser bei der Flucht aus Ostpreußen zehn Jahre alt war. Welche Schuld, frage ich, hatte dieses Kind auf sich geladen, das immer wieder mit ansehen musste, wie seine Mutter vergewaltigt wurde? Dieser Junge steht stellvertretend für alle Kinder, die auf der Flucht schier Unvorstellbares haben erleiden müssen.

Die Haltung der Alliierten

Und im Westen? Die alliierte Luftflotte bombardierte im Frühjahr 1945 die Städte über dem immer kleiner werdenden Reichsgebiet, das noch nicht erobert war, bis kurz vor deren Kapitulation, als diese Angriffe militärisch schon längst sinnlos waren. Ihr alleiniges Ziel war es nur noch – das muss man so klar sagen – zu zerstören und zu töten. Und selbst nach der Eroberung ging das Zerstören mitunter weiter. So wurde beispielsweise die Stadt Friesoythe in Nordwestdeutschland nach der Einnahme durch die Kanadier und nach Beendigung der Kampfhandlungen vollständig zerstört. 

Die Haltung der Westalliierten macht die aus dem April 1945 stammende Direktive 1067 an die amerikanischen Streitkräfte deutlich, in der es heißt: „Deutschland wird nicht besetzt zum Zwecke seiner Befreiung, sondern als besiegter Feindstaat.“

Selbstverständlich war der 8. Mai 1945 für alle Verfolgten des NS-Regimes durchaus eine Befreiung, und er war, wenn man so will, auch eine Befreiung aller Deutschen und Europäer vom Zweiten Weltkrieg. Es wurde nicht mehr geschossen, es fielen keine Bomben mehr. Aber es wurde noch lange Zeit gestorben. 

Das Sterben ging weiter

Besonders schwer hatte es die deutsche Bevölkerung getroffen, die im nördlichen Ostpreußen unter sowjetische Herrschaft gekommen war. 80 Prozent aller dort verbliebenen Deutschen starben an Hunger. Erinnert sei in diesem Zusammenhang an das furchtbare Schicksal der ostpreußischen Hungerkinder. Erinnert sei aber auch an alle Kriegsgefangenen und Verschleppten, die in den sowjetischen Arbeitslagern noch bis 1955 elendig an Unterernährung, Kälte und Entbehrung zu Grunde gingen.

Am 8. Mai 1945 lag unser Land in Trümmern. Millionen Menschen waren ausgebombt oder heimatlos. Kaum eine Familie, in der man nicht um den Sohn, den Bruder, den Ehemann weinte. Viele hatten im Krieg körperliche oder seelische Wunden davongetragen, die ihnen, sofern sie nicht an diesen Wunden zerbrachen, noch lange Schmerzen bereiteten – sogar bis heute.

Aber nicht nur die äußere Welt war zerstört – auch die innere. Alles, wofür die Deutschen so lange gekämpft und gelitten hatten, lag nun in Trümmern. Nichts galt mehr. Sie mussten schmerzhaft begreifen, dass sie geirrt hatten und einem Verbrecher gefolgt waren. Viele taten sich mit dieser Einsicht noch lange schwer.

Kein Datum für pauschale Aussagen

Der 8. Mai eignet sich in seiner Vielschichtigkeit nicht für pauschale und undifferenzierte Etikettierungen. Diejenigen, die heute lautstark dafür plädieren, dieses Datum als „Tag der Befreiung“ zu feiern, berufen sich dabei gern auf den früheren Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker und dessen Rede im Jahr 1985, in der dieser den 8. Mai 1945 als „einen Tag der Befreiung“ bezeichnete. 

Doch – und das ignorieren gern all jene, die sich auf Weizsäcker beziehen – der Bundespräsident sagte damals auch: „Der 8. Mai ist für uns Deutsche kein Tag zum Feiern.“ Und weiter: „Der eine kehrte heim, der andere wurde heimatlos. Dieser wurde befreit, für jenen begann die Gefangenschaft. Viele waren einfach nur dafür dankbar, dass Bombennächte und Angst vorüber und sie mit dem Leben davongekommen waren. Andere empfanden Schmerz über die vollständige Niederlage des eigenen Vaterlandes. Verbittert standen Deutsche vor zerrissenen Illusionen, dankbar andere Deutsche vor dem geschenkten neuen Anfang.“ Letztendlich war der 

8. Mai für Weizsäcker ein Tag des Gedenkens an alle Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft – unabhängig von ihrer Nationalität. Und ein Tag des Nachdenkens über die Frage: „Wie konnte all das nur geschehen?“

Das Denkwürdige an all den Debatten der Deutschen über einen angemessenen Umgang mit dem Datum des Kriegsendes ist, dass die wohl trefflichste Formel bereits formuliert worden ist, noch bevor die Bundesrepublik gegründet worden war. Am 8. Mai 1949, noch bevor er zum ersten Bundespräsidenten gewählt wurde, sagte Theodor Heuss in einer Rede vor dem Parlamentarischen Rat: „Im Grunde bleibt dieser 8. Mai die tragischste und fragwürdigste Paradoxie der Geschichte für jeden von uns. Warum? Weil wir erlöst und vernichtet in einem gewesen sind.“ 

b Burghard Gieseler ist Studiendirektor und war u.a. von 2004 bis 2014 Landesvorsitzender des Niedersächsischen Altphilologenverbandes. Seit 2016 ist er Vorsitzender der Kreisgemeinschaft Osterode Ostpreußen e.V..