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08.05.20 / Kriegsende / Erinnerungen eines Kindersoldaten / Der 1928 im damals preußischen Lüneburg geborene Autor beschreibt, wie er das Kriegsende vor 75 Jahren erlebte

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 19 vom 08. Mai 2020

Kriegsende
Erinnerungen eines Kindersoldaten
Der 1928 im damals preußischen Lüneburg geborene Autor beschreibt, wie er das Kriegsende vor 75 Jahren erlebte
Friedrich-Wilhelm Schlomann

Deutsche Frontsoldaten aus dem Zweiten Weltkrieg sind eine Seltenheit geworden. Wer jetzt noch lebt, ist über 90 Jahre alt und gehört zum letzten Aufgebot der Wehrmacht. Die damalige Hitler-Jugend, aufgeteilt in Sparten wie Motor-, Funker- und Flieger-HJ, fand viel Interesse bei uns Jugendlichen: Letztlich stellte sie eine vormilitärische Erziehung dar. So konnte ich mit knapp 16 Jahren mit einem Maschinengewehr sowie einem kleinen Granatwerfer scharf schießen. Im Frühjahr 1945 erhielten wir in einem Wehrertüchtigungslager eine kurze, aber harte Soldatenausbildung. 

Mit 16 Jahren eingezogen

Als die Rote Armee vor Berlin stand, wurde ich zur Führernachwuchsschule II des Heeres in Potsdam eingezogen. Nach sieben Tagen Ausbildung im Häuserkampf zogen wir jungen Soldaten an die Front Berlin-Potsdam. Wir besaßen weder Soldbuch noch Wehrpass. Es hieß, sie würden folgen – was indes nie geschah. So wurden später viele tote Kindersoldaten namenlos begraben. Ich selbst trug einen Zettel mit meiner Heimatadresse bei mir. 

50 Jahre später hatten viele Schwierigkeiten, diese Zeit für ihre Rente anzurechnen. Beweise waren schwierig, zumal man nach dem Gesetz erst mit 17 Jahren Soldat werden konnte. Die meisten von uns verbanden in ihrem Fanatismus ihr Leben mit dem Schicksal unseres Deutschlands unter Adolf Hitler. Hinzu kamen die Schrecken der russischen Streitkräfte bei ihrem Vorgehen, die Angst vor Gefangenschaft saß tief. Hitlers Worte, die Sowjets würden vor Berlin die größte Niederlage erleben, gaben uns Mut. 

„Den Führer ’raushauen“ 

Eines Morgens war das benachbarte Schützenloch leer. Die zwei Deserteure habe man aufgehängt, was wir kommentarlos hinnahmen. Bei einem Angriff der russischen Soldaten habe ich zwei erschossen. Auch der Einsatz ihrer Flammenpanzer brach nicht unseren Widerstand, obwohl wir Angst hatten. Vielleicht galt Gleiches für die Gegenseite. Jedenfalls konnten wir uns nachts unbemerkt mit Sturmbooten über die Havel absetzen. Wir sollten den Kessel aufreißen und „den Führer ’raushauen“. Doch allzu bald blieben wir im russischen Sperrfeuer liegen. Unvergesslich ist mir, wie ein Bekannter meiner Heimatstadt verwundet um Hilfe schrie, eine Hilfe, die feindlicherseits verhindert wurde. Die Abstände seiner Rufe wurden zusehends größer, seine Stimme kraftloser und dann war er ganz still. 

Seiner Mutter habe ich später nicht sein allmähliches Sterben erzählt, sondern ihr vorgelogen, er sei sofort erschossen gewesen. Wir mussten viele Leichen sehen, auch vergewaltigte Frauen im Alter von sieben bis 70 Jahren. Wir bekamen Verstärkung: Ein bunter Haufen älterer Soldaten, Luftwaffen-Angehörige, Männer vom Volkssturm und Reichsarbeitsdienst. Viele waren 14-jährige Hitlerjungen in ihrer Uniform, ich sah sie auf Fahrrädern mit zwei Panzerfäusten. Beim Befehl „Panzerknacker nach vorn“ gingen sie, obwohl sie gewiss ahnten, dass sie nicht zurückkehren würden. 

Erbitterte Straßenkämpfe in Golm

Der Ort Golm brachte erbitterte Straßenkämpfe. Feindliche Panzer tauchten auf, fast automatisch schoss ich mit der Panzerfaust, traf auch einen und wurde zugleich verwundet, die ganze linke Körperseite schien zerfetzt zu sein. Ich weinte vor Schmerzen, schleppte mich ins nahe Frontlazarett. Hier saß neben mir ein knapp 14-jähriger Hitlerjunge mit einem Wangendurchschuss, er heulte nach seiner Mutter, ich habe ihn nie wiedergesehen. Ein Arzt mit einer 16-jährigen Krankenschwester stellte bei mir 33 Granatsplitter fest, das sei aber „nicht schlimm“. 

Verbandsmaterial war knapp, ich musste operiert werden. Als ich später den Raum verlassen konnte, stand ein „Iwan“ mit seiner Kalaschnikow vor mir – tat mir aber nichts. Getrieben von Angst vor Sibirien, bin ich auf recht primitiven Krücken dann nachts mit drei Soldaten geflüchtet. Um einem Auftauchen von Russen zu entgehen, mussten wir immer wieder stoppen. Erst nach sieben Stunden erreichten wir wieder deutsche Linien in einer Entfernung von nur rund fünf Kilometern. 

Am 4. Mai erreichten wir die Elbe

Ende April gelang es der Armee Wenck, den Kessel Berlin-Potsdam gerade in unserer Gegend für einige Stunden zu sprengen. Mehr konnten die total erschöpften Soldaten nicht tun, es fehlte zudem an Munition. Mit sechsspännigen Pferdewagen zogen wir in Richtung Westen, durch brennende Dörfer, und wurden oft in Schießereien mit versprengten Sowjetsoldaten verwickelt. Die Strapazen verlangten das Letzte.

Am 4. Mai erreichten wir bei Tangermünde die Elbe im Rücken der „Iwan“, auf dem anderen Ufer der „Ami“. Am Abend sangen wir noch unser Deutschlandlied, auch ich hatte Tränen in den Augen. Wir fragten uns, was aus unserem Deutschland wird. Am nächsten Morgen überquerten wir die schon unter russischem Beschuss liegende Brücke und begaben uns in US-Kriegsgefangenschaft. Drei Tage später gelang dem späteren Außenminister Hans-Dietrich Genscher als einem der Letzten noch der gleiche Weg. 

Später wurde ich aus britischer Gefangenschaft entlassen. In den gleichen Tagen haben die Engländer meine Heimatstadt Schwerin den sowjetischen Streitkräften überlassen. Angesichts der Gerüchte, diese würden entlassene Soldaten erneut gefangen nehmen, machte ich mich noch jünger mit kurzen Haaren, recht kurzer Kniehose und ließ alles Militärische verschwinden. 

Um eine echte Jugend gebracht

Dem russischen Grenzposten stotterte ich etwas von „Mamma“ und „Doma“, er ließ mich passieren. Bald lag ich meiner überglücklichen Mutter in den Armen (mein Vater war in US-Gefangenschaft). Erst allmählich stellten wir fest, dass man uns eine echte Jugend gestohlen hatte. Wir waren bloßes Kanonenfutter und starben für Hitler, der selbst feigen Selbstmord beging. 

Keine einzige Wehrmachtkartei registrierte unsere Wehrmachteinheit, nur die Briten hatten mich als Gefangenen registriert. Der Weg ins Normalleben war nicht leicht. Am 1. Oktober 1945 jedenfalls gingen wir wieder zur Schule, manche einstigen Schüler kamen nicht vom Krieg zurück, andere waren verwundet, ich ging noch mit einem Handstock. Noch Jahrzehnte träumte ich von einem Kindersoldatengesicht, durch das ein Bajonett ging. In ungeheizten Schulräumen in Mänteln ohne Schulmittel, eigentlich immer hungrig – dennoch waren wir sehr glücklich, dem so vielen Kriegssterben mit toten Kameraden, brennenden Panzern und vergewaltigten Frauen entronnen zu sein.