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15.05.20 / Das Menetekel „Los von Rom“ / In Südtirol wächst die Unzufriedenheit über das Agieren der italienischen Zentralregierung während der Corona-Pandemie. Überall im Lande taucht eine alte Losung an Häusern und Berghängen auf

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 20 vom 15. Mai 2020

Das Menetekel „Los von Rom“
In Südtirol wächst die Unzufriedenheit über das Agieren der italienischen Zentralregierung während der Corona-Pandemie. Überall im Lande taucht eine alte Losung an Häusern und Berghängen auf
Reinhard Olt

Im Lande an Eisack und Etsch gärt es. Feuerschriften leuchten auf. „Jetzt reicht‘s“, verkünden brennende Fackel-Schriftzüge zwischen Pustertal, Burggrafenamt und Vinschgau. „Freistaat“, heißt ein Verlangen auf Spruchbändern. „Kurz, hol uns heim“, fordern Aufschriften auf an Brücken befestigten Tüchern als Wunsch an den österreichischen Bundeskanzler. Und in Weinbergen, an Felswänden, Heustadeln und Gartenzäunen prangt auf Spruchtafeln, was des Nachts Flammenschriften an Bergrücken bekunden: „Los von Rom“.

Die Stimmung schlägt um

Die Folgen der Corona-Krise zeitigen im südlichen Teil Tirols, von Italien 1918 annektiert und ihm im Vertrag von St. Germain 1919 als Belohnung für seinen Seitenwechsel 1915 zugesprochen, einen markanten Stimmungsumschwung in der Bevölkerung. Der öffentlich vernehmliche Unmut gegen das Dasein im fremdnationalen Staat und der Rückgriff auf den alten Wahlspruch „Los von Rom“, der seit den 1960er und 1970er Jahren infolge der Autonomie- und „Paket“-Politik allenfalls noch von austro-patriotischen, in ganz geringem Maße auch von deutschnationalen Kräften zu vernehmen war, hat in den „Corona-Wochen“ durch das Agieren des römischen Zentralismus einen neuen enormen Auftrieb erhalten.

Selbst die Südtiroler Volkspartei (SVP), seit 1945 dominante politische Kraft in der Autonomen Provinz Bozen-Südtirol, scheint von diesem Umschwung erfasst zu sein. Eine SVP, deren (seit Abgang der „Alten Garde“) janusköpfige Führung – hie Parteiobmann Philipp Achammer, da Landeshauptmann Arno Kompatscher – seit Amtsantritt 2014 stets mehr Italophilie zeigte denn von historisch gebotener Österreich-Empathie berührt ist. Die Auswirkungen der Corona-Krise – insbesondere das notorisch zu nennende zentralstaatliche Gebaren Roms, das der verfassungsmäßigen Autonomie Hohn spricht und die Südtiroler „Selbstverwaltung“ ad absurdum führt(e) – setzten quasi über Nacht eine Kurswende in Gang. 

So beschloss die SVP-Parteiführung, als sie gewahrte, dass sich der Stimmungsumschwung in Wirtschaft und Gesellschaft letztlich zu ihren machtpolitischen Ungunsten auswirken würde, eine Kehrtwende. Sie bekundete, die von ihr geführte Landesregierung werde nicht einfach mehr die als abschnürend empfundenen Dekrete von Ministerpräsident Conte in vom Landeshauptmann quasi übersetzte Anordnungen kleiden, sondern durch ein eigenes, in autonomer Zuständigkeit vom Landtag zu verabschiedendes Landesgesetz ersetzen, welches den Bedürfnissen der Bevölkerung zwischen Brenner und Salurner Klause Rechnung trage. 

Konflikt mit Ansage

„Für uns ist es nicht akzeptabel, dass unsere Autonomie weiter eingeschränkt wird“, hatte Kompatscher nach einer Videokonferenz des Regionenministers Francesco Boccia mit den Regierungschefs der Regionen und autonomen Provinzen sowie mit Zivilschutz-Chef Angelo Borrelli und dem außerordentlichen Covid-19-Notstandskommissar Domenico Arcuri dargelegt. Boccia hatte bekräftigt, dass Sonderwege für Gebietskörperschaften erst vom 18. Mai an zulässig seien. Daher, so Kompatscher, werde Südtirol nicht nur den „schwierigen gesetzgeberischen Weg gehen, um Schritt für Schritt das wirtschaftliche Leben wieder in Gang zu bringen“, sondern auch die römischen Parlamentarier der Partei veranlassen, die (ohnehin labile) Regierung Contes – von dem im linken Parteienspektrum angesiedelten Partito Democratico (PD) und der Movimento 5 Stelle (M5S; „Bewegung 5 Sterne“) sowie einer PD-Abspaltung unter dem früheren Ministerpräsidenten Renzi mehr schlecht als recht getragen – nicht länger zu unterstützen.

Der gesetzgeberische Akt Südtirols wird letztlich zwangsläufig zu einem Konflikt führen, der nicht allein bis zum römischen Verfassungsgerichtshof reichen würde, wenn Rom – trotz aller Lobhudeleien mit Bozen und Wien über die „weltbeste Autonomie“ und die „friedliche gutnachbarschaftliche Lösung des seit Ende der Teilung Tirols 1919/20 bestehenden Südtirolkonflikts“ – auf seiner „Ausrichtungs- und Koordinierungsbefugnis“ (AKB) als Zentralgewalt bestehen und den Landtagsbeschluss für null und nichtig erklären sollte. 

Doch unabhängig davon, ob Rom dann eine Art Zwangsverwaltung über Südtirol verhängt – denn selbst bis zu einer „Eilentscheidung“ des römischen Verfassungsgerichtshofs, die erfahrungsgemäß kaum zugunsten Südtirols ausfallen dürfte, würde wohl einige Zeit verstreichen – oder nicht, könnten alle damit verbundenen Akte wohl kaum ohne erhebliche Spannungen realisiert werden. Eigentlich sehen das „Südtirol-Paket“ von 1969 und das darauf fußende Zweite Autonomiestatut von 1972 rechtsverbindlich vor, dass alle von Rom zu treffenden Maßnahmen hinsichtlich Südtirols stets nur im Einvernehmen mit den dortigen Gremien in Kraft gesetzt werden können. Notfalls steht es Bozen zu, Wien sozusagen als „Schutzmacht“ anzurufen. Lediglich der Gang vor den Internationalen Gerichtshof (IGH) ist im Zuge der damaliger Verhandlungen nicht als Vertragsbestandteil fixiert worden, was sich als kaum mehr gutzumachendes Hemmnis für die Südtiroler Sache insgesamt erweist. 

„Vollautonomie oder Freistaat“

Die SVP – in der Anfang 2019 gebildeten Landesregierung auf die Südtiroler Provinzorganisation der starken Lega angewiesen – hat dabei nicht allein ihren Koalitionspartner an der Seite. Die Lega ist seit dem „Hinauswurf“ ihres demoskopisch erfolgsverwöhnten römischen Vormanns Matteo Salvini mit der römischen Regierung ohnedies auf striktem Konfliktkurs. Auch auf die deutschtiroler Oppositionskräfte im Landtag, Freiheitliche Partei (FPS) und Süd-Tiroler Freiheit (STF), kann sie in dieser Sache zählen, wenngleich beiden die im Landesgesetz fixierten Erleichterungen nicht in allen Punkten zusagen oder sie für zu wenig weitreichend erachten. Hauptsache, man setzt Zeichen für ein gemeinsames Aufbäumen gegen Rom und dessen scheibchenweise Aushöhlung der autonomen Zuständigkeiten Südtirols. Diese sind längst weit von der seit 1992 von der SVP erstrebten „dynamischen Autonomie“ entfernt; ganz zu schweigen von der von ihr einst als hehres Ziel proklamierten „Vollautonomie“, von der in letzter Zeit kaum noch die Rede gewesen ist.

Dass die SVP die (nicht allein in Feuerschriften aufflammenden und auf Transparenten ersichtlichen) „Zeichen der Zeit“ erkannte, ist unverkennbar auch auf innerparteiliches Rumoren zurückzuführen. Vor allem die Wirtschaft und die Tageszeitung „Dolomiten“, die sich allzu gern als SVP-„Wegweiser“ geriert, wenn nicht bisweilen gar als deren Quasi-Parteiorgan fungiert, äußerten sich in diese Richtung. Markant auch der Mahnruf Christoph Mastens. Der langjährige SVP-Wirtschaftsfunktionär, seit 40 Jahren Parteimitglied, bedient sich seines Internet-Organs VOX-News Südtirol, um der jetzigen Parteiführung und insbesondere dem Landeshauptmann sowie den SVP-Landesräten (Ministern) in griffigen Anklagen nicht nur fehlendes Führungsmanagement, Misswirtschaft und Versagen vorzuhalten, sondern auch „gewissenlosen Verrat an der Südtirol-Autonomie und am Südtiroler Volk“ zu unterstellen – gipfelnd in zündenden VOX-Losungen wie: „Jetzt Vollautonomie oder Freistaat“.

Ein Gefühl bricht sich Bahn 

Dass  solche Stimmen nicht nur in austropatriotischen Verbänden wie dem Südtiroler Heimatbund (SHB), der Vereinigung ehemaliger Freiheitskämpfer der 1960er bis 1980er Jahre und dem Südtiroler Schützenbund (SSB) Resonanz finden – SSB-Kompanien waren maßgeblich an der Organisation der weithin ersichtlichen Parolen und Leuchtfeuer beteiligt –,  sondern in einer breiten „Los von Rom“-Stimmung münden, liegt auf der Hand. 

Es sind daher nicht mehr nur die Anhänger der Opposition, die vom römischen Zentralismus, ja von der nicht selten unter dem Gebot des „friedlichen Miteinanders“ erzwungenen Unterwerfung unter die Lupa Romana genug haben. Mehr und mehr Bewohner des Landes zwischen Dolomiten und Reschen halten die bisher praktizierte Form der Südtirol-Autonomie für gescheitert. Sie sehen im politkommunikativen Gesäusele von der die Teilung Tirols überwindenden „Zukunft durch EUropäisierung“, praktiziert in einem mehr oder weniger papierenen Gebilde namens „Europaregion Tirol“, nurmehr Augenwischerei. 

Der latente Krisenzustand der EU, wie er besonders während der „Coronitis“ dadurch augenfällig wurde, dass der Rückfall in nationalstaatliches Gebaren als Überlebensnotwendigkeit erachtet und vor aller Augen sichtbar wurde, verstärkte dies Empfinden. Der Gedanke, sich nicht nur „stärker von Rom zu lösen“, sondern sich nach nunmehr 100 Jahren der Zwangseinverleibung, zweimal verweigertem Selbstbestimmungsrecht und idenditätszerstörendem Assimilationsdruck tatsächlich in aller Form und Konsequenz von Italien zu verabschieden, bricht sich zunehmend Bahn. Bei Protestfeuern, lodernden Tiroler-Adler-Silhouetten und Spruchbändern mit dem schneidenden Verlangen „Kurz, hol uns heim“ wird es wohl nicht bleiben.






Prof. Dr. phil. Dr. h.c. Reinhard Olt war von 1985 bis 2012 Redakteur der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ und von 1994 bis zu seinem Ausscheiden deren politischer Korrespondent in Wien. Er hatte Lehraufträge an diversen deutschen und österreichischen Hochschulen inne.