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15.05.20 / Politik / Woran krankt Deutschland? / Grünen-Politiker Boris Palmer kritisiert eine allgemeine Realitätsferne der Politik sowie die Neigung zur Moralisierung statt zur Faktentreue

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 20 vom 15. Mai 2020

Politik
Woran krankt Deutschland?
Grünen-Politiker Boris Palmer kritisiert eine allgemeine Realitätsferne der Politik sowie die Neigung zur Moralisierung statt zur Faktentreue
Wolfgang Kaufmann

Der noch grüne Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer gehört ungeachtet seiner Parteizugehörigkeit zum hierzulande neuerdings eher selten geworden Politiker-Typus des Realisten. Das zeigte nicht zuletzt sein Bestseller „Wir können nicht allen helfen“ über die Grenzen der Integration von Menschen aus fremden Kulturkreisen. Dem folgt nun das Buch „Erst die Fakten, dann die Moral“. Darin geißelt Palmer das weitverbreitete Wunschdenken unter den politisch und wirtschaftlich Verantwortlichen, welches immer häufiger zu eklatanten Fehlentscheidungen in Brüssel, Berlin und anderswo führe. Das tut er sehr konkret anhand vieler Beispiele vom Wohnen und der Inneren Sicherheit über Bauprojekte bis hin zum Umwelt- oder Klimaschutz in all seinen Facetten. Auf jedem dieser Gebiete, so Palmer, dominiere nun das hypermoralische Denken, was als Anzeichen für eine „Tatsachenkrise“ zu werten sei. Zudem gehe die Hintanstellung der Realität mit Überheblichkeit und Arroganz gegenüber dem Normalbürger daher.

Allerdings versteigt sich Palmer in seinen Ausführungen auch selbst zu moralinsauren Tiraden, wenn es um „Rechtspopulisten“ im Allgemeinen und die Alternative für Deutschland (AfD) im Besonderen geht. 

Andererseits verdienen Palmers zehn Thesen über Politik und Wirklichkeit Beachtung, da sie recht prägnant beschreiben beziehungsweise erklären, woran unser Land nicht erst seit der Corona-Krise krankt.

Erstens: Gesellschaftliche und politische Bewegungen aller Art hätten sich erheblich radikalisiert. Zweitens: Die Emanzipation der Bürger vom Staat fördere auch den individuellen und kollektiven Egoismus. Drittens: Kaum jemand wolle mehr unbequeme Wahrheiten hören. Viertens: Für jede Kleinigkeit brauche es inzwischen Experten – wo bleibe der gesunde Menschenverstand? Fünftens: Statt einer objektiven Risikobewertung dominiere die Panikmache. Sechstens: Großprojekte würden um jeden Preis umgesetzt, damit sich einzelne Politiker als „Macher“ profilieren können. Siebtens: Die Gesellschaft spalte sich immer mehr. Achtens: Eine wachsende „Empörungskultur“ angesichts von Nichtigkeiten verdränge sachliche Debatten über wichtige Themen. Neuntens: Selbst Wirtschaftslenker agierten nicht mehr faktenorientiert, sondern fingen an zu moralisieren. Und Zehntens: Die höheren Ebenen der Politik hätten kein Interesse an den Erfahrungen der Praktiker vor Ort und der „Menschen da draußen“. Dem allen kann man nur schwerlich widersprechen. 

Boris Palmer: „Erst die Fakten, dann die Moral. Warum Politik mit der Wirklichkeit beginnen muss“, Siedler Verlag, München 2019, gebunden, 239 Seiten, 20 Euro