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29.05.20 / Expressionistisches Theater / Der Eifer von Muttervater / Meistgespielter Bühnenautor der Weimarer Republik – Vor 75 Jahren starb der Dramatiker Georg Kaiser

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 22 vom 29. Mai 2020

Expressionistisches Theater
Der Eifer von Muttervater
Meistgespielter Bühnenautor der Weimarer Republik – Vor 75 Jahren starb der Dramatiker Georg Kaiser
H. Tews

Die Weimarer Zeit war nicht nur eine dramatische Epoche, sondern auch eine Blütezeit des Dramas. Nach Krieg und Revolution spiegelten Künstler verstärkt auf der Bühne die Aufbruchstimmung wider. Mit dem Stummfilm kam außerdem ein neues Medium für den dramatischen Ausdruck hinzu. So kam es, dass sich Schriftsteller als Theaterautoren spezialisierten. Damalige Stücke Gerhart Hauptmanns, Bertolt Brechts, Carl Zuckmayers oder Ödön von Horváths sind zu modernen Klassikern geworden. Aber auch Arthur Schnitzler, Carl Sternheim, Fritz von Unruh, Walter Hasenclever und Ernst Toller sind nicht in Vergessenheit geraten.

Anders verhält es sich mit Georg Kaiser, der mit seinen 70 Dramen nicht nur der produktivste, sondern mit seinen Stücken auch der meistaufgeführte Bühnenautor der Weimarer Republik war. Heute kennen einige wenige seine Dramen allenfalls vom Namen her. „Die Bürger von Calais“ zum Beispiel, dieses bereits vor dem Ersten Weltkrieg entstandene und 1917 uraufgeführte Historiendrama, das von Auguste Rodins gleichnamiger Skulptur inspiriert war. Es handelt von jenen sechs Bürgern, die sich im Hundertjährigen Krieg für die Beendigung der Belagerung von Calais durch die Briten opferten.

Das Motiv des freiwilligen Menschenopfers war nicht nur eines der zentralsten Elemente des expressionistischen Theaters, als dessen Hauptvertreter Kaiser gilt, sondern auch ein Verweis auf den nahenden Krieg. Der 1878 in Magdeburg geborene Autor wollte 1914 selbst freiwillig daran als Soldat teilnehmen, wurde aber aus gesundheitlichen Gründen ausgemustert.

Zwischen 1918 und 1920 schuf er dann mit „Gas“ ein Theater-Diptychon, das in den 1980er Jahren eine kurze Renaissance erfuhr, als man es als Lehrstück gegen atomare Bedrohung umdeutete. Statt einer Atombombe explodiert in „Gas, 

Teil 1“ eine Gasfabrik, woraufhin ein human gesinnter „Milliardärsohn“ auf deren Trümmern die Utopie einer „Erneuerung des Menschen“ errichten will. Das Stück entstand kurz vor der sozialen Eruption durch die Novemberrevolution, in die auch Kaiser Hoffnung setzte. Das erst danach entstandene Stück „Gas, Teil 2“ ist weit pessimistischer. Dort wird aus der Gas- eine Giftgasfabrik, dem der „neue Mensch“ nichts entgegenzusetzen hat.

Kaisers Stücke sind bühnenwirksame, zeitbezogene Ideendramen, in denen sich das Individuum in der Masse verliert. Weil keine identitätsstiftenden Helden im Vordergrund stehen, haben sich seine Dramen nicht lange im kollektiven Gedächtnis halten können. Die pathetisch expressionistische Sprache macht das Verständnis nicht leichter. In „Gas, 2“ klingt es so: „Meines Blutes Blut schlug nach Verwandlung von uns!! Mein Eifer tränkte sich mit Eifer von Mutter und Muttervater!! Unsere Stimme konnte die Wüste wecken ...“

Kaisers Stimme weckte jedenfalls Brecht, der so manches von Kaisers Neuerungen in seine Lehrstücke übertrug. Und obwohl zwar sozialkritisch, aber nie sozialrevolutionär eingestellt, weckte Kaisers Stimme in dem von Kurt Weill musikalisch eingerichteten Stück „Der Silbersee“ von 1933 die SA, welche weitere Aufführungen von Kaisers Stücken verhinderte.

1938 flüchtete Kaiser vor der Gestapo in die Schweiz, wo er sich in der Künstlergemeinde des Monte Verità in Tessin zum neuen Menschen verwandeln wollte, ehe er am 4. Juni 1945 in Ascona starb.