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29.05.20 / Flucht und Neuanfang / Als die Russen nach Neidenburg kamen / Siegfried Burghardt gelang es, mit Mutter und Geschwistern einen der letzten Züge in den Westen zu erreichen

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 22 vom 29. Mai 2020

Flucht und Neuanfang
Als die Russen nach Neidenburg kamen
Siegfried Burghardt gelang es, mit Mutter und Geschwistern einen der letzten Züge in den Westen zu erreichen
Dagmar Jestrzemski

Ende November 1944 wurde den Bewohnern des masurischen Dorfes Theerwisch, Kreis Neidenburg, bewusst, dass der mörderische Kriegsschauplatz immer näher rückte. Die Menschen hörten ein Donnergrollen wie von einem heranziehenden Gewitter. Siegfried Burghardt (Familienname ursprünglich Iwannek), damals zwölf Jahre alt, beteiligte sich im Auftrag seiner Mutter an den Fluchtvorbereitungen. Er schlachtete Hühner und vergrub Küchenutensilien in der Scheune. Mit Hilfe einer aus Berlin angereisten Tante schaffte es die sechsköpfige Familie – ohne den Vater, der wie so viele Männer an der Front war – mit einem der letzten Eisenbahntransporte Ortelsburg zu verlassen, bevor die sowjetischen Truppen in das Kreisgebiet eindrangen.

Fluchtvorbereitung mit zwölf

In seinem Buch „Im Westen war die Sonne. Flucht zwischen zwei Fronten“ berichtet Burghardt von der vier Monate dauernden Flucht seiner Familie über Kolberg, Berlin, Brandenburg und Hannover bis nach Schulenburg an der Leine. Aufgrund der Fürsprache einer Verwandten nahm sie der freundliche Besitzer der Calenberger Mühle in seinem alten Herrenhaus auf, obwohl dort schon andere Flüchtlingsfamilien wohnten. 

Schon als Kind war der Autor ein Natur- und speziell ein Vogelfreund, beobachtete aber auch aufmerksam die zwischenmenschlichen Begegnungen von Erwachsenen und Kindern auf engstem Raum. Einprägsame Ereignisse waren für ihn die Ankunft der Engländer in Schulenburg, Berichte über freigelassene russische und polnische Kriegsgefangene, die plündernd durch die Dörfer zogen, die systematischen Verhaftungen der amerikanischen Militärpolizei, Begegnungen mit alliierten Soldaten und der Schulbeginn im Herbst 1945. Ein Dauerthema in den Hungerjahren 1945 bis 1947 war für die Flüchtlinge neben der Bekleidung das Essen – von dem Überfluss der Bauern und Gartenbesitzer profitierten sie überwiegend nur durch Tauschen, Stoppeln, Hamstern und Sammeln. Der Vater des Autors wurde noch während des Krieges als vermisst gemeldet und blieb verschollen. 

„Ich werde nie den Tag vergessen, an dem wir den geborgenen Überlebenden des Untergangs der Gustloff begegneten“, schreibt Burghardt. Am 31. Januar beobachtete er mit seinem Bruder am Kolberger Hafen, wie zwei Männer einige in Decken gehüllte Personen an Land geleiteten. Eine völlig entkräftete Frau wurde getragen. Es waren aus Seenot gerettete Überlebende des Untergangs der „Wilhelm Gustloff“, die am Abend des 30. Januar vor der pommerschen Küste von einem sowjetischen U-Boot torpediert worden war und sank. Herbeieilende Schiffe konnten von den vermutlich über 10.000 Menschen an Bord, davon die meisten Flüchtlinge aus Ostpreußen, nur 1252 retten. 

Über Kolberg in den Westen 

Das Ereignis war für seine Mutter der Auslöser für ihre Entscheidung, aus Pommern weiter in westliche Richtung zu flüchten. Er ist überzeugt: Die zeitige Flucht seiner Familie aus Masuren und Kolberg hat ihn und seine Angehörigen nicht nur vor schlimmen Erlebnissen bewahrt, sondern wahrscheinlich auch ihr Leben gerettet. Nach dem Abitur an einem Gymnasium in Hannover wählte er den Lehrerberuf. Bis zu seiner Pensionierung 1995 unterrichtete er als Gymnasiallehrer in Bad Bentheim naturwissenschaftliche Fächer. Heute lebt Siegfried Burghardt im Kreis Gifhorn. 

Siegfried Burghardt: „Im Westen war die Sonne. Flucht zwischen zwei Fronten“, MEDU Verlag, Dreieich bei Frankfurt/M. 2019, broschiert, 116 Seiten, 11,95 Euro