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05.06.20 / Der Dichter Londons / Vor 150 Jahren starb Charles Dickens – Er gilt als Englands Shakespeare der Romanliteratur

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 23 vom 05. Juni 2020

Der Dichter Londons
Vor 150 Jahren starb Charles Dickens – Er gilt als Englands Shakespeare der Romanliteratur
Harald Tews

Von Alexandre Dumas, dem Autor der „Drei Musketiere“, stammt der Satz: „Nach Gott hat Shakespeare am meisten geschaffen.“ Bezogen auf die englische Literatur könnte man hinzufügen: „Nach Shakespeare hat Dickens am meisten geschaffen.“

Charles Dickens zählt zweifellos zu den bedeutendsten englischen Romanautoren. In seinen Werken spiegelt sich nicht nur wie bei kaum einem anderen Schriftsteller seiner Epoche das viktorianische Zeitalter wider. Seine Bücher „Oliver Twist“, „David Copperfield“, „Bleak House“ oder „Große Erwartungen“ stehen auch stellvertretend für die große realistische Erzählkunst auf der Insel und sind Prototypen der Großstadtliteratur, die erst im 20. Jahrhundert mit Werken wie „Ulysses“ (Joyce), „Manhattan Transfer“ (John Dos Passos) oder „Berlin Alexanderplatz“ (Döblin) ihren großen Auftritt hatte.

Seien wir ehrlich: Einen vergleichbaren Romanautor hatte die deutschsprachige Literatur in jener Epoche nicht zu bieten. Nach Goethes Tod war Deutschland das Land der Musik, aber weniger das der Literatur. Die großen realistischen Werke entstanden in Frankreich (Balzac, Flaubert, Zola), in Russland (Turgenjew, Dostojewski, Tolstoi) oder eben in Großbritannien, wo neben Dickens noch Thackeray, die Brontë-Schwestern und George Eliot literarische „Evergreens“ hinterließen.

Ein zeitgenössischer deutscher Autor, der da einigermaßen mithalten konnte, bevor Thomas Mann die Weltbühne betrat, war Theodor Fontane. Seine Romanproduktion begann aber erst acht Jahre nach Dickens Tod am 9. Juni 1870. Ähnlich wie Dickens der Poet Londons war, so war Fontane der Dichter Berlins. Doch während bei Fontane die Kutschen noch in provinzieller Gemütlichkeit durch die Hauptstadt rollten und man auf privaten Empfängen auf geschliffene Konversation achtete, so zeigt uns Dickens ein pulsierendes London, das gerade als Großstadt erwacht ist mit allen seinen Schattenseiten: Schmutz, Elend, Armut, Kriminalität.

Nützliche Teile der Gesellschaft

London war Berlin im 18. Jahrhundert um mehr als eine Nasenlänge voraus. Die Industrialisierung und der Manchester-Kapitalismus hatten mit aller Macht Einzug gehalten. Und der junge Dickens hat manches davon am eigenen Leib miterleben müssen. Denn zehn Jahre nach seiner Geburt am 7. Februar 1812 in einem südenglischen Idyll bei Portsmouth ließ sich die Familie in London nieder. Da sein Vater, ein Schreiberling der Marine, einen eher lockeren Umgang mit Geld pflegte, landete er in einem Schuldgefängnis. Seine Ehefrau folgte ihm dorthin, was damals üblich war.

Der Sohn aber musste die Schule verlassen und drei Monate in einer Schuhwichsfabrik schuften, um für die Familie Geld zu verdienen. Dieses traumatische Erlebnis einer sozialen Degradierung sollte zum Schlüsselmoment vieler seiner Werke werden, in denen aus kindlicher Perspektive die Hölle auf Erden erlebt wird. Die Armenhäuser, in denen seine titelgebenden Romanfiguren Oliver Twist oder Nicholas Nickleby geknechtet werden, sind nicht nur reine Fiktion. Sie waren Ergebnis eines Nützlichkeitsprinzips, dem von den Wirtschaftsphilosophen Jeremy Bentham und John Stuart Mill propagierten Utilitarismus, wonach jeder Staatsbürger seinen nützlichen Teil zur Gesellschaft beitragen sollte.

Diese Ideen mündeten in eine Reihe von Reformen, die auf Dickens’ scharfe Sozialkritik stießen. 1834 regelte eine Änderung des Armutsgesetzes die Bedingungen für Kinder aus ärmlichen Verhältnissen, die in Arbeitshäusern untergebracht waren. Unter dem Deckmantel der Fürsorge arbeiteten bis 1848 rund 50.000 Kinder armer Familien bis zu zehn Stunden am Tag in solchen „Wohltätigkeitseinrichtungen“, wo sie der Gewaltwillkür solch schmieriger Büttel wie Mr. Bumble („Oliver Twist“), Mr. Squeers („Nicholas Nickleby“) oder Mr. Creakle („David Copperfield“) ausgesetzt waren.

Da seit dem Reform Bill von 1832 die Macht vom Adel auf das Bürgertum verlagert wurde, bekam letzteres mehr Freiheiten, auch die zu schlagen und zu knechten. In seinen Romanen karikierte Dickens diese Liberalisierung, die für Kinder eine Tyrannei des Schreckens war.

Doch auf Regen folgt Sonnenschein. Als Dickens’ Vater aus dem Gefängnis entlassen wurde, war für den Sohn die Fronarbeit beendet. Er konnte wieder in die Schule gehen, wurde Rechtsanwaltsgehilfe und schrieb Parlamentsberichte für Zeitungen. Um die Politikerreden erfassen zu können, erlernte er sogar die Stenografie. Sein Fleiß wurde von Mentoren gefördert. Die Gönner schlugen sich in seinen Werken in einer Reihe ebenso sympathischer wie schrulliger Gestalten nieder wie dem exzentrischen Mr. Pickwick in Dickens schelmischem Debütroman „Die Pickwicker“, dem ewig optimistischen, aber immer kurz vor der Pleite stehenden Mr. Micawber („David Copperfield“) oder William Dorrit, einem in dem Roman „Little Dorrit“ im Schuldgefängnis einsitzenden rührigen Ebenbild von Dickens’ Vater.

Auf der anderen Seite bevölkern die Romane unvergessliche Schurken, Hehler, Diebe und Erbschaftsbetrüger wie Fagin („Oliver Twist“), Quilp („Der Raritätenladen“) oder Uriah Heep („David Copperfield“). Nach Letzterem hat sich sogar eine bekannte Rockband benannt. Um das gesamte soziale Panorama unterhalb der Aristokratie – diese tritt in seinen Werken ebenso wenig in Erscheinung wie die seit 1837 als Regentin amtierende Queen Victoria – abzubilden, griff Dickens auch zu literarischen Kolportagemitteln. Neben dem abschreckenden Realismus einer ausgebeuteten Arbeiterklasse in „Harte Zeiten“ setzte er als Kontrast auch Schauerromantik, Melodramatik sowie auch das neue Genre Krimi ein. In „Bleak House“ ermittelt im Nebel von London der erste Polizeidetektiv der Weltliteratur.

Der „Erfinder von Weihnachten“

Auf gespenstig-triviale Weise führte Dickens kauzige Figuren wie die alte Miss Havisham ein, die in „Große Erwartungen“ seit ihrer geplatzten Hochzeit in einem abgetragenen weißen Hochzeitskleid in ihrem Haus herumgeistert. Und der Tod der Little Nell im „Raritätenladen“, mit dem Dickens an eine in seinen Armen gestorbene junge Schwägerin erinnert, rührt noch heute zu Tränen. Nur den Zyniker Oscar Wilde nicht, der dazu bemerkte: „Man muss schon ein Herz von Stein haben, um Klein Nells Sterbeszene lesen zu können, ohne zu lachen.“

15 Romane schuf Dickens, die zuerst als Fortsetzungsromane in Zeitungen erschienen waren. Sein auflagenstärkstes Buch ist aber in Deutschland so gut wie unbekannt: „Eine Geschichte zweier Städte“, das mit „Barnaby Rudge“ einer der einzigen beiden historischen Romane des Autors ist. Es spielt zur Zeit der Französischen Revolution in Paris und London und gehört in England als eine Art Geschichtsbuch der 1789er Revolution zur festen Schullektüre.

Ähnlich populär ist in den angelsächsischen Ländern seine „Weihnachtsgeschichte“ mit dem Geizhals Scrooge, der später wieder in Disneys „Donald Duck“-Geschichten auftauchen sollte und darin in Deutschland besser als Onkel Dagobert bekannt ist. Mit dieser Geschichte wird Dickens auf der Insel auch als der „Erfinder von Weihnachten“ bezeichnet. Geschrieben hat er die kurze Geschichte in wenigen Wochen aus Geldnot. Da sich sein Roman „Martin Chuzzlewit“, in dem er seine Erfahrungen aus einer Lesereise nach Nordamerika verarbeitete, schlecht verkaufte, brauchte der auf großem Fuß lebende Autor dringend Geld. Es kam zum Happy End, wie es auch in allen seinen Werken der Fall ist.

Andererseits kam der Tod für Dickens relativ früh im Alter von 58 Jahren. Auf einer Lesereise erlitt er einen Schlaganfall, von dem er sich nicht mehr erholen sollte.





Charles Dickens: „Oliver Twist“. 

Die Szene, als Oliver im Armenhaus am Essenstisch um etwas mehr Brei bittet und mit der sein Autor schlagartig berühmt wurde:

„Ich bitte um Verzeihung, Sir, ich möchte noch um ein wenig bitten.“

Der Koch, ein feister rotbackiger Mann, wurde blaß wie der Kalk an der Wand. In maßlosem Staunen starrte er einige Sekunden den kleinen Rebellen an und mußte sich am Kessel festhalten, um nicht umzufallen. Die beiden Frauenzimmer waren geradezu gelähmt vor Entsetzen, und auch die Jungen konnten vor Furcht kein Wort hervorbringen.

„Was?“, fragte der Koch endlich mit schwacher Stimme. „Ich bitte, Herr“, wiederholte Oliver, „ich möchte noch etwas haben.“

Der Koch gab ihm eins mit dem Löffel über den Kopf, faßte ihn dann am Arm und schrie laut nach dem Kirchspieldiener.

Die Herren Vorstände saßen gerade zusammen bei einer Beratung, als Mr. Bumble in höchster Erregung ins Zimmer stürzte und dem Herren auf dem hohen Stuhl meldete:

„Mr. Limbkins, ich bitte um Verzeihung, Sir, Oliver Twist hat mehr zu essen verlangt.“

Alles fuhr auf. Entsetzen malte sich auf allen Gesichtern.

„Mehr?“, rief Mr. Limbkins. „Kommen Sie zu sich, Bumble! Antworten Sie mir klar und deutlich. Verstehe ich recht? Er hat mehr gefordert als die ihm von der Vorstandschaft festgesetzte Ration?“

„Jawohl, Sir.“

„Der Bursche kommt noch an den Galgen“, ächzte der Gentleman mit der weißen Weste. „Denken Sie an mich, der Bursche kommt noch an den Galgen.“

Niemand widersprach, und es entspann sich eine lebhafte Diskussion. Auf Befehl der Vorstandschaft wurde Oliver augenblicklich eingesperrt.

(Übersetzt von Gustav Meyrink im Jahr 1914)