28.03.2024

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05.06.20 / Musikwissenschaftler Gustav Jacobsthal aus Pyritz

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 23 vom 05. Juni 2020

Musikwissenschaftler Gustav Jacobsthal aus Pyritz
Martin Stolzenau

Er erforschte die Musik des Mittelalters. Gustav Jacobsthal entstammte einer jüdischen Familie in Pommern, wurde durch namhafte Persönlichkeiten zum Musikwissenschaftler geprägt und erlangte deutschlandweite Bekanntheit. Er fungierte lange als einziger Professor für Musikwissenschaften in ganz Deutschland und erreichte mit der systematischen Erforschung der Musik des Mittelalters eine große Nachwirkung. Sein umfangreicher Nachlass, der erhalten blieb, gehört inzwischen zum Bestand der Staatsbibliothek in Berlin und wird seit 2000 wissenschaftlich erschlossen. Seitdem erschienen zahlreiche Beiträge, die sich mit dem Wirken und der Bedeutung des herausragenden Musikwissenschaftlers aus Pommern beschäftigen. 

Gustav Jacobsthal wurde am 14. März 1845 in Pyritz geboren. Der Ort liegt rund 50 Kilometer südlich von Stettin, wurde 1125 erstmals urkundlich erwähnt, erhielt 1263 das Magdeburger Stadtrecht übertragen und erlebte Ende des 19. Jahrhunderts mit einer jüdischen Gemeinde einen wirtschaftlichen Aufschwung. Heute trägt Pyritz den Namen Pyrzyce und ist eine kleine Kreisstadt in der polnischen Woiwodschaft Westpommern. Die Eltern Jacobs­thal waren wohlhabend und schickten ihren Sohn nach der ersten Unterrichtung in Pyritz auf das Marienstiftsgymnasium in Stettin, wo seine besondere Begabung in Musik und Mathematik entdeckt und durch namhafte Lehrer wie Carl Loewe und Hermann Grassmann gefördert wurde. Mit Folgen. Ab 1863 studierte der junge Mann aus dem pommerschen Pyritz in Berlin. Im Mittelpunkt standen Musik, Philosophie und Geschichte. Die Reihe seiner namhaften Lehrer reichte von Heinrich Bellermann, der ihn in die Komposition einführte, über Eduard Grell, dem Chef der Berliner Sing-Akademie, bis zum Klavierlehrer Carl Tausig und zu Philipp Jaffé. Jaffé gehörte zu den bedeutendsten deutschen Historikern des 19. Jahrhunderts, hatte wegen seiner ungewöhnlichen Sachkenntnis als erster Jude an der Berliner Universität eine Professur, prägte das Geschichtsbewusstsein von Jacobsthal bis hin zur Musikgeschichte maßgeblich und vermittelte ihm historische Forschungsmethoden. Das führte 1870 zur Promotion mit einer Arbeit über die Mensuralnotation des 12. und 13. Jahrhunderts. 

Danach wechselte der junge Musikwissenschaftler nach Wien, wo er sich in der Obhut von Theodor von Sickel weiter vervollkommnete, die Wiener Handschriften über die Musiktheorie des Hermann von Reichenau erschloss und auf dieser Grundlage seine Habilitationsschrift erarbeitete.

Jacobsthal wurde mit dieser Arbeit an der neuen Kaiser-Wilhelms-Universität in Straßburg habilitiert und legte anschließend so richtig los. Er erforschte nun systematisch die Musikgeschichte des Mittelalters, lehrte zunächst als Privatdozent und wurde wegen seiner Forschungs- und Lehrerfolge in Verbindung mit seinen Veröffentlichungen erst als außerordentlicher und dann als ordentlicher Professor berufen. Das kam einem Ritterschlag gleich. Der Aufsteiger aus Pommern gründete den Akademischen Gesangsverein der Universität, entwickelte ihn zum Ausbildungsinstitut, leitete den Städtischen Gesangsverein Straßburgs und prägte seinerseits einige Schüler wie Albert Schweitzer, Friedrich Ludewig und Peter Wagner, die später in seinem Sinne ebenfalls Bekanntheit erlangten. Mehr noch. Jacobsthal gab die altfranzösischen Texte des „Motettenkodex Montpellier“ heraus, entschlüsselte mit seiner Arbeit „Die chromatische Alteration im liturgischen Gesang der abendländischen Kirche“, die Problemvielfalt bei der Melodiebildung im Choral, analysierte die Vokalpolyphonie des 16. Jahrhunderts, die frühe Operngeschichte sowie die Instrumentalmusik der Wiener Klassiker und sorgte nebenbei als Ausgleich und Entspannung neben der musikwissenschaftlichen Forschung und Lehre für eigene Kompositionen. Das reichte von Chorwerken für seine Gesangvereine über Klavierlieder bis zu einem Streichquartett. Außerdem schrieb er Artikel für die Allgemeine Musikalische Zeitung und rezensierte für die Deutsche Literaturzeitung. Jacobsthal lebte für die Musik, überanstrengte sich und hatte nach einer zusätzlichen Infektion einen Zusammenbruch, der 1905 seine vorzeitige Emeritierung zur Folge hatte. 

Der Musikwissenschaftler zog sich nach Berlin zurück, erholte sich nicht wieder und starb am 9. November 1912 in der Reichshauptstadt. Seine letzte Ruhe fand Jacobsthal auf dem Jüdischen Friedhof in Berlin-Weissensee. Damit endete die Forschungsarbeit abrupt. Er hinterließ viele begonnene Arbeitsprojekte als Fragmente, die gegenwärtig von einer neuen Generation von Musikwissenschaftlern aufgearbeitet werden. 

(Foto: Sammlung Frankfurt) 


Info Mit Weizacker bezeichnete man die Landschaft südöstlich der Buchheide in den Landkreisen Greifenhagen und Pyritz. Erstmals erschien der Name in Peter Kistmachers oder „Chelopoeus" Buch „De Pomeranorum regione et gente" (1574). Der Weizacker ist zweigeteilt in einen größeren, hügligeren Teil zwischen Buchheide und Madüsee und einen kleineren, flacheren östlich von Pyritz an der Grenze zur Neumark. Ein äußerst fruchtbarer Boden bildete die Grundlage das Reichtums seiner Bauern, den sie auch durch ihre aufwändigen Trachten ausdrückten. Kolbatzer Mönche begannen schon drei Jahre nach ihrer Klostergründung im Jahre 1173 den Weizacker zu erschließen und Bauern aus der Altmark anzusiedeln. 1355 gehörten dem Kloster bereits 49 Dörfer. Nach der Reformation wurde der Klosterbesitz in ein herzogliches Amt umgewandelt und 1616 mit dem Amt Pyritz vereinigt; 1724 wurde es auf die Kreise Greifenhagen und Pyritz aufgeteilt. Kultureller und wirtschaftlicher Mittelpunkt war das „pommersche Rothenburg“, die Stadt Pyritz.