Es herrschte Erleichterung, als um 1950 der Wiederaufbau einsetzte. Rauchende Schlote waren die Symbole der traditionsreichen Industrien Kohle und Stahl, die für zwei Jahrzehnte das Wirtschaftswunder in Deutschland prägten. Aber ab 1970 ging es mit beiden Industrien rapide bergab. Innerhalb von 30 Jahren, so schreibt der an der Universität Trier unterrichtende Neuzeithistoriker Lutz Raphael, gab es „einen dramatischen Strukturwandel mit weitreichenden gesellschaftlichen Folgen“.
Raphaels quellenreiche „Gesellschaftsgeschichte“, eine Mischung aus Geschichtswissenschaft und Industriesoziologie, stellt diesen Strukturwandel in der Bundesrepublik, in Frankreich und in Großbritannien vergleichend gegenüber, drei Länder mit einer lange florierenden Montanindustrie. Der Autor untersucht, wie Industrie, Gewerkschaften und auch der Staat darauf reagierten.
Dabei zeigt sich, wie sehr nationale Traditionen dieses Geschehen bestimmten. In Deutschland wurde durch die betriebliche Mitbestimmung schon früh eine Entschärfung von Konflikten erreicht, was bei Arbeitslosigkeit oder Betriebsauflösungen eine halbwegs sozialverträgliche Lösung brachte. In Frankreich fuhr einerseits der Staat bei Krisen oft rigoros dazwischen und erzwang unwirtschaftliche Lösungen, andererseits gehörten wilde und mitunter schier endlos lange Streiks fast zum Alltag. In Großbritannien wurden lange Zeit Betriebsvereinbarungen unmittelbar vor Ort zwischen Unternehmen und Gewerkschaften ausgehandelt. Als die Streiks landesweit erstarkten, wurden sie – so der berühmt-berüchtigte Bergarbeiterstreik gegen die Regierung Thatcher – in einem gnadenlosen Kampf niedergerungen.
Fast gleichviel Raum nimmt die Veränderung traditioneller Sozialmilieus in den drei Ländern ein. Das Schrumpfen der alten Industrien hatte gravierende Auswirkungen auf die Lebenswelt der Industriearbeiter. War ein Betrieb früher so etwas wie Heimat, in dem man Jahrzehnte hindurch beschäftigt war, so gibt es diese alten Bindungen immer weniger. Raphael wertet die Wurzellosigkeit vieler Beschäftigter als latente Gefährdung der Demokratie.
Das Buch ist durch den ständigen Ländervergleich trotz mitunter schwerer Terminologie ungemein anregend. Es zeigt, wie stark wirtschaftliches Geschehen Gesellschaft und Politik beeinflusst. „Die Wirtschaft ist unser Schicksal“, hatte Walter Rathenau gesagt. Raphaels Buch bestätigt das in fast dramatischer Weise.
Lutz Raphael: „Jenseits von Kohle und Stahl. Eine Gesellschaftsgeschichte Westeuropas nach dem Boom“, Suhrkamp Verlag, Berlin 2019, gebunden, 526 Seiten, 32 Euro