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26.06.20 / Zum Tode von Jean Raspail / Visionen von erschreckender Aktualität / Mit dem Buch „Heerlager der Heiligen“ legte der französische Schriftsteller schon vor Jahrzehnten ein Werk vor, in dem bereits wesentliche Handlungsmuster der „Flüchtlingskrise“ beschrieben sind

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 26 vom 26. Juni 2020

Zum Tode von Jean Raspail
Visionen von erschreckender Aktualität
Mit dem Buch „Heerlager der Heiligen“ legte der französische Schriftsteller schon vor Jahrzehnten ein Werk vor, in dem bereits wesentliche Handlungsmuster der „Flüchtlingskrise“ beschrieben sind
Erik Lommatzsch

Der französische Schriftsteller Jean Raspail ist gestorben, am 13. Juni, wenige Wochen vor seinem 95. Geburtstag. Zwischen 1950 und 1970 leitete er Expeditionen in ferne Weltgegenden und publizierte zunächst über entsprechende Themen, etwa über die Feuerlandindianer. Mitglied der „Société des Explorateurs Français“ war er und Generalkonsul von Patagonien, jenes im 19. Jahrhundert in Südamerika konzipierten Königreichs, welches nie wirklich existent war. Sein deutscher Verleger Götz Kubitschek erklärte, zu diesem Königreich fühle sich hingezogen, „wer etwas für Kämpfe auf verlorenen Posten übrig hat“. Jean Raspail gehörte zweifelsfrei dazu.

Das Katholische hielt er hoch und ebenso die Monarchie. Die Verwerfungen und Auflösungen der Moderne, der Übergang zu egalitären Schmelztiegeln, die Vernichtung des Angestammten und des Traditionellen, die Auflösung des Verbindenden, untergehende Zivilisationen und die Sorge um die Überflutung mit dem Fremden und das Verschwinden des Eigenen waren seine Themen. Seine Bücher bieten Nischen für den Geist, für das Denken in einer Welt mit sich verengenden „Gesinnungskorridoren“. 

Raspails Figuren sind Typen und sollen es auch sein. Zu großen Hoffnungen gibt er selten Anlass. Das Stadium, in dem noch Umkehr möglich wäre, scheint in seinen Werken oft unwiderruflich überschritten. Pessimistische Linien sind vorherrschend, der Blick in die Zukunft ist der Blick in den Abgrund. Und doch ist da immer wieder das Verborgene, das Standhaltende, ein wenig das Phantastische und das beständige Heilige. 

Bezüglich der Lage seines Landes, bezüglich der Frage eines „Neuanfangs“ in der Geschichte Frankreichs äußerte sich Raspail 2013 pessimistisch: „Es bräuchte das Aufflammen eines epischen Geistes, einen Sinn für ein höheres Schicksal, um einen solchen Neubeginn für Frankreich zu ermöglichen. Dazu bedarf es Menschen, die immer noch an ihr Vaterland glauben. Ich sehe davon nicht mehr viele.“ Die „Statue Frankreichs“ habe man rissig werden lassen und ihre „Gestalt entstellt“, bis hin „zu einem Punkt, an dem es nichts mehr gibt, das Ehrfurcht gebietet“. Raspails Selbstverständnis spiegeln Sätze wie: „Ich lebe seit 1500 Jahren in Frankreich, ich bin mit dem zufrieden, was mir gehört, und ich habe keinerlei Bedürfnis, irgendetwas daran zu ändern.“

Gedankenspiele, die sich aus historischen Konstellationen ergeben, sind bei ihm zu finden, seinen Rang begründen aber vor allem die großen Visionen, denen man nahezu prophetischen Charakter zubilligen darf. An erster Stelle steht hier das bekannteste Werk, das 1973 in Frankreich erschienene „Heerlager der Heiligen“. Seit fünf Jahren liegt auch die vollständige, eine vorherige, unbefriedigende deutsche Ausgabe ersetzende Übertragung von Martin Lichtmesz vor. 

„Wir werden suchen müssen“

Der Titel nimmt Bezug auf die Offenbarung des Johannes, das letzte Buch des Neuen Testaments. Die Handlung des „Heerlagers“, so der Autor selbst, lasse sich in wenigen Sätzen zusammenfassen. „Eines Nachts landen hundert Schiffe mit letzter Kraft an der Südküste unseres Landes, beladen mit einer Million Einwanderern. Von Elend gezeichnete Armutsgestalten … aus der südlichen Halbkugel, angelockt vom Versprechen eines gelobten Landes, in dem Milch und Honig fließen. Sie sind voller Hoffnung, sie sind extrem mitleiderregend. Sie sind schwach. Sie sind unbewaffnet. Ihre Stärke liegt in ihrer Zahl.“ Sie appellierten an „unser weichliches Gutmenschentum“, sie seien „der Andere … die Vorhut der Massen“. Unausweichlich stelle sich die Frage: „Und nun, da sie hier sind, werden wir sie bei uns aufnehmen, in Frankreich, in unserem ‚Asyl- und Einwanderungsland‘?“ 

Im „Heerlager“ wurde weit vor der 2015 einsetzenden „Flüchtlingskrise“ ein Szenario entwickelt, in dem eine Vielzahl von Passagen gerade den deutschen Leser vermuten lassen könnte, Raspail habe Beobachtungen der jüngsten Entwicklungen in seinem Buch verarbeitet. Schlaglichtartig geschildert werden die hilflosen Reaktionen, die „Willkommenskultur“, die Preisgabe, die Inkriminierung und Bekämpfung der – wenigen – Warner und Kritiker, von Schuldkomplexen geleitetes Handeln, das Wegducken von Verantwortungsträgern, die sich der künftigen Pro-blematik durchaus bewusst sind. Auf nahezu erschreckende Weise konfrontiert 

Raspail mit Mustern, deren Zeuge man unlängst selbst geworden ist – auch wenn die Immigranten im „Heerlager“ Inder sind, der Islam keine Rolle spielt und das Einwanderungsziel Frankreich heißt. Lediglich die extremen Eskalationen, vor allem am Ende des Buches, gehören noch nicht zum Erfahrungsschatz des Lesers. Raspail weiß mit Sätzen zu konfrontieren, die unangenehm sind, aber möglicherweise sehr bedenkenswerte Wahrheiten 

beinhalten, etwa: „Feigheit vor den Schwachen ist die subtilste, aber virulenteste und tödlichste Form der Feigheit.“

Der Idee des Verborgenen, des „Überlebenden“, der Tradition, im direkten Sinn von Weitergabe, gibt Raspail in seinem Buch „Der Ring des Fischers“ Raum. Das Große Abendländische Schisma, die spätmittelalterliche Kirchenspaltung, stellt den Ausgangspunkt dar, der Autor nimmt an, das damalige Gegenpapsttum sei nicht erloschen, sondern mit dem Anspruch, eigentlicher Amtswalter zu sein, im Geheimen bis in die heutige Zeit fortgeführt worden. In „Sire“ wird im Jahr 1999 mit Pharamond II. ein französischer König aus dem Hause Bourbon gesalbt und gekrönt, ebenfalls verborgen vor der großen Öffentlichkeit. Eine von Raspails Figuren sagt, das Königtum sei „die einzige annehmbare Form der Herrschaft über Menschen, weil es auf die Liebe gegründet ist.“ In einer der zahlreichen Rückblenden schildert der Autor die an der Grablege der Könige in der Basilika von Saint-Denis ausgelassene Zerstörungswut der französischen Revolutionäre – wie dieser Tage zu sehen: kein Phänomen vergangener Epochen. 

Zerstörung und das Ungewisse der eigenen Lage grundieren den Roman „Sieben Reiter verließen die Stadt“. Raspail lässt hier verkünden: „Wir werden suchen müssen; jenseits dessen, was wir kennen und dessen, was wir nicht kennen.“