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26.06.20 / Psychologie und gesinnung / Was sind die Wurzeln der Radikalisierung? / Experten rätseln darüber, was Menschen in extreme Positionen und gewalttätige Handlungen lockt

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 26 vom 26. Juni 2020

Psychologie und gesinnung
Was sind die Wurzeln der Radikalisierung?
Experten rätseln darüber, was Menschen in extreme Positionen und gewalttätige Handlungen lockt
Wolfgang Kaufmann

Nach Terroranschlägen egal welcher Art heißt es oft, der Täter habe sich quasi von ganz alleine „radikalisiert“. Dabei besteht noch reichlich Klärungsbedarf, wie so etwas eigentlich abläuft – sofern es sich bei der angeblichen „Radikalisierung“ um keine spontane Entscheidung zur Tat, sondern wirklich um das Ergebnis einer Entwicklung über mehrere Stufen hinweg handelt. 

Soziologen, Sozialpsychologen und Kriminologen wie Arie Kruglanski von der US-Universität von Maryland und die Mitglieder der European Commission’s Expert Group on Violent Radicalisation (Expertengruppe der Europäischen Kommission für gewaltsame Radikalisierung; ECEGVR) haben hierzu verschiedene Modelle entwickelt, in denen sowohl Gruppendenken, Gruppendruck und gruppeninterne Konkurrenz als auch die individuelle Überbetonung von Normen und Werten bestimmter Ideologien oder Religionen sowie die konkrete persönliche Lebenssituation eine Rolle spielen. 

Glaubenssysteme wirken mit

In diesen Erklärungsmustern wird die Radikalisierung oft als eine Art von „individueller Entgleisung“ hingestellt – oder als etwas im Grunde rein Pathologisches. Wenn die Experten nicht gar versuchen, strukturelle Querverbindungen zum Denken und Handeln von Vertretern der Organisierten Kriminalität herzustellen. Auf jeden Fall gilt die Radikalisierung im akademischen und auch politischen Diskurs heute in der Regel als „Betriebsunfall“, der sich zu jeder Zeit in nahezu jeder beliebigen gesellschaftlichen Gruppe ereignen könne. Desgleichen legen die Stufenmodelle der Radikalisierung nahe, dass das Ganze schrittweise verlaufe, weshalb die Möglichkeit bestehe, den entsprechenden Prozess durch rechtzeitige Eingriffe zu stoppen oder gar rückgängig zu machen. 

Allerdings beginnt diese Sichtweise jetzt langsam auf Kritik zu stoßen – so beispielsweise von Seiten des früheren Mitarbeiters der Kriminologischen Zentralstelle des Bundes und der Länder in Wiesbaden, Werner Sohn. Und tatsächlich: Wenn Radikalisierung als etwas Normales und praktisch in jeder Umgebung Denkbares erscheint, dann wird damit ausgeblendet, dass es Weltanschauungen und Glaubenssysteme gibt, deren Wesenskern im Vergleich zu anderen deutlich gewalttätiger daherkommt, was die Haltung gegenüber Außenstehenden oder gar Gegnern betrifft. 

Forscher absichtlich blind?

Das soll ganz offensichtlich  „Stigmatisierungen“ vermeiden, verursacht aber eine absichtliche Blindheit gegenüber bestimmten Tätergruppen und deren verfassungsfeindlichen oder terroristischen Bestrebungen. Und dies wiederum behindert natürlich jegliche Prävention.

Ebenso ist es hochproblematisch, wenn ständig nur auf vermeintliche Risikofaktoren für die Radikalisierung wie Diskriminierung, Ausgrenzung und gesellschaftliche Missstände oder Sinnkrisen verwiesen wird. Denn das läuft im Grunde darauf hinaus, die Gesamtheit aller Menschen in einer Gesellschaft für die Radikalisierung von Einzelpersonen verantwortlich zu machen, obwohl doch letztlich jedem von uns in jeder Lebenssituation ganz unterschiedliche Wege offenstehen, Frustrationen zu kompensieren.