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26.06.20 / Für Sie gelesen / Skandal um einen Kanal

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 26 vom 26. Juni 2020

Für Sie gelesen
Skandal um einen Kanal
Bernd Kallina

Das Jahr 1976 in der alten Bundesrepublik Deutschland: Fünf Wochen nach der Eröffnung des 116 Kilometer langen „Elbe-Seitenkanals“, der die Elbe mit dem Mittellandkanal verbindet, bricht das schon Jahrzehnte vorher konzipierte Bauprojekt an einer Unterführung bei Lüneburg. Es fehlte ein Sperrtor, das die Flut hätte aufhalten können. Die Folgen vor Ort sind verheerend. 3000 Retter retten, was zu retten ist, die Bundeswehr steht hilfreich zur Seite und am Ende befinden sich mehr als 1000 Hektar Land unter Wasser. Danach baut der Bund alles wieder auf, inklusive Unterführung, jedoch ohne zusätzliches Tor für den Ernstfall. Die Konsequenzen aus dem Skandal? Niemand wird zur Verantwortung gezogen. 

Verantwortungslosikeit

Der Autor des quellengesättigten Werkes „Der Deutsche Kanal“, der Historiker Frank Uekötter, sieht hierbei eine „Kunst der organisierten Verantwortungslosigkeit“ in der Bundesrepublik in Aktion, die er für typisch hält. Darüber lässt sich sicherlich streiten, wenngleich auch in anderen Fällen, siehe die vorhersehbare aktuelle Corona-Krise, die systematische Ausblendung des „Ernstfalls“ nicht nur für die alte Bundesrepublik kennzeichnend war und ist. Siehe auch die Pa-rallelen zur „Berliner Republik“ wie verunglückte Vorgänge unter den Stichworten „Stuttgart 21“, „Berliner Flugplatz BER“ oder „Elbphilharmonie“ zeigen. 

Unterlassung

Was Uekötter im Bereich des Versagens bei groß-technischen Projekten hier beispielhaft am fehlerhaften Bauwerk eines kleinen Kanals beschreibt, erinnert in gewisser Weise an Günter Rohrmosers 1994 erschienenes Werk „Der Ernstfall“. Der konservative Philosoph zeichnete schon damals krisenhafte Entwicklungen vor und nach der Wiedervereinigung in Deutschland klarsichtig auf, wies unter anderem auf den islamischen Fundamentalismus hin und beklagte die sich abzeichnende Überforderung des Sozialstaates. Dabei mahnte er die defizitäre geistig-moralische Dimension staatspolitischer Führung an und problematisierte damit eine andere Form von „organisierter Verantwortungslosigkeit“ (Uekötter) durch Unterlassung. Denn, wer vorhersehbare „Ernstfälle“ konsequent ausblendet, gefährdet die Überlebensfähigkeit von Staat und Gesellschaft. So ergänzen sich beide Autoren, auch wenn sie sich der Grundproblematik von unterschiedlicher Seite aus nähern.

Das Werk von Uekötter ist in seiner optischen Präsentationsform vorzüglich ausgestattet: Eine augenfreundliche Schriftsatzgestaltung, ergänzt mit aufschlussreichen Karten, maßvoller Bildauswahl, einer Chronologie der Ereignisse sowie der ausführliche Anmerkungsapparat, zeichnen das Buch in ansprechender Weise aus.

Frank Uekötter: „Der Deutsche Kanal – Eine Mythologie der alten Bundesrepublik“, Franz-Steiner-Verlag, Stuttgart 2020, gebunden, 330 Seiten, 29 Euro