Es waren Horrorszenarien, die gerade die deutsche Medienlandschaft noch vor wenigen Monaten für den Fall entwarf, dass sich Boris Johnson durchsetzen und den Austritt Großbritanniens aus der EU realisieren sollte. An den Häfen des Ärmelkanals würden sich kilometerlange Staus von Lkw bilden, die nicht abgefertigt werden könnten. Lebensmittel und Medikamente sollten die Insel nicht mehr erreichen. Die Wochenzeitschrift „Stern“ fabulierte 2019 gar, dass es aufgrund von Versorgungsengpässen Tote geben werde.
Passiert ist bisher indes wenig. Noch immer ragt das britische Eiland zwischen Nord- und Irischer See aus dem Meer hervor, ohne dass deren Wellen es in einem Gottesgericht unter sich begraben hätten. Dabei waren schon damals keineswegs seherische Fähigkeiten erforderlich, um zu erkennen, dass die Risiken des Brexits hierzulande völlig überzeichnet wurden.
Die irrationalen apokalyptischen Zerrbilder von Politikern und Journalisten legten beredtes Zeugnis darüber ab, dass das Bekenntnis zu einer immer enger zusammenwachsenden EU längst keine Frage des politischen Kalküls mehr ist, sondern zunehmend einen religiösen Charakter angenommen hatte. Die von der Mehrheit der Briten getroffene Entscheidung, diese Gemeinschaft nun zu verlassen, stellte in den Augen des kontinentalen Establishments daher nicht einfach einen demokratischen Willensakt dar.
Vielmehr sehen nicht wenige Befürworter eines europäischen Zentralstaates hierin einen Fall von Apostasie, also die Lossagung von einem alleinseligmachenden Glauben. Dies erklärt auch die Schärfe der laufenden Verhandlungen um ein Freihandelsabkommen. Während die EU gerne ein strafendes Exempel statuieren möchte, versucht die britische Regierung, das lästige und in Brüssel zurechtgeschneiderte Zwangskorsett von Regulierungen abzuwerfen. Den Erfolg, den London bei diesem Unterfangen davonträgt, wird für die Union zweifelsohne sehr viel bedeutsamer sein als für das Vereinigte Königreich.
Gelänge es Johnson, ab 2021 eine souveräne eigene Wirtschaftspolitik zu betreiben und würde diese gar zu mehr Wachstum und Wohlstand für alle Briten führen, dann wäre damit nicht nur das gängige Narrativ infrage gestellt, wonach einzelne europäische Staaten in einer globalisierten Welt ohnehin keinerlei ökonomische Überlebenschancen hätten, sondern dann würde zugleich die Frage aufgeworfen werden, ob die Regulierungswut der EU die adäquate Antwort auf die Herausforderungen der Zukunft bietet.D.P.