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10.07.20 / DDR / Das Schweigekartell hat über das Staatsende hinaus bis heute Bestand / Betrieb der SED-Staat eine Adoptionsvermittlung von Säuglingen ins westliche Ausland gegen Devisen? Und wurde hierzu der Tod von Neugeborenen vorgetäuscht?

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 28 vom 10. Juli 2020

DDR
Das Schweigekartell hat über das Staatsende hinaus bis heute Bestand
Betrieb der SED-Staat eine Adoptionsvermittlung von Säuglingen ins westliche Ausland gegen Devisen? Und wurde hierzu der Tod von Neugeborenen vorgetäuscht?
Heidrun Budde

Säuglinge wurden in der DDR geboren und weggetragen, ohne dass die Mütter sie sehen durften. Kurze Zeit später kam fast beiläufig die schockierende Mitteilung, dass das Neugeborene verstorben sei. Keine oder nur notdürftige Informationen zur Todesursache, kein erlaubter letzter Blick auf das Kind und auch keine Bestattung – die Eltern wurden mit ihrer Trauer allein gelassen. Erst Jahrzehnte nach dem Zusammenbruch des SED-Staates stellten sie fest, dass es viele ähnliche, fragwürdige Todesfälle gab. Was ist damals tatsächlich passiert, und gibt es Hinweise auf einen vorgetäuschten Tod der Kinder? 

Mysteriöse Randvermerke

Die heutige Spurensuche ist schwierig, denn viele, ehemals streng geheime Akten wurden vernichtet. Hinweise lassen sich aber in den noch erhaltenen offiziellen Dokumenten finden, die früher nur ausgewählte Personen einsehen durften und die heute zugänglich sind. Der Tod eines Säuglings musste sehr genau erfasst werden. Die Klinik war verpflichtet, eine schriftliche Sterbeanzeige an das örtliche Standesamt zu geben. 

Eine Sichtung dieser Sterbeanzeigen im Stadtarchiv Rostock für die Jahre 1969 und 1970 zeigt erste Widersprüche auf. So weisen die Dokumente Sterbefälle von Säuglingen mit einem Geburtsgewicht von unter 1000 Gramm in Rostock aus, die aber in anderen Orten geboren wurden. Ein Zwillingsmädchen mit nur 900 Gramm Geburtsgewicht soll beispielsweise eine Stunde nach der Geburt in Rostock verstorben sein, wurde aber im 30 Kilometer entfernten Kühlungsborn geboren. 

Ein anderer Fall: Marika wurde in Wismar mit nur 780 Gramm bei einer Größe von 32 Zentimetern geboren. Nach offizieller Einordnung war sie eine Fehlgeburt, welche die erfolgreiche Statistik der Säuglingssterbefälle in der DDR nicht belastete. Dieser Säugling soll fünf Tage gelebt und den Transport von Wismar zum 71 Kilometer entfernten Rostock überstanden haben, wo es dann verstarb. 1969/1970 war es weder technisch noch medizinisch möglich, so kleine Säuglinge zu transportieren. Gab es diese Transporte tatsächlich, oder hatten sie nur eine Alibifunktion auf dem Papier, damit der Tod der Kinder nicht am Geburtsort passierte?

Bei der genauen Sichtung dieser Sterbeanzeigen fällt weiter auf, dass sie jemand mit handschriftlichen Randvermerken versehen hat, an deren Bedeutung sich heute niemand erinnern will. So wurde beispielsweise bei Monika, die 1970 in Wismar geboren wurde und die in Rostock verstarb, vermerkt: „Best. Wismar 2+1 d. 1E“ und „VMV 846“. Wer hat diese Vermerke in welcher Absicht gemacht?

Waren Ärzte der Uniklinik Rostock möglicherweise in Manipulationen von Sterbefällen eingebunden? Die Akte eines Oberarztes der Universitätsfrauenklinik, angeworben als „Inoffizieller Mitarbeiter“ der Staatssicherheit, gibt hier interessante Einblicke. Dieser Oberarzt fühlte sich „in seiner Persönlichkeit bestätigt“ und er bedankte sich für das Vertrauen, als ihn der Geheimdienst um eine Zusammenarbeit bat. Skrupel hatte er keine, und seine Aufträge, insbesondere zur Neugeborenenstation der Klinik, erfüllte er prompt. So gab er Auskunft über das technische Verfahren bei Todesfällen von Säuglingen. Die Staatssicherheit wollte durch ihn ermitteln, ob bestimmte Sterbefälle in der Klinik bekannt waren, ob es Widersprüche in Arztberichten zu Entbindungen gab und ob über zu häufige Sterbefälle geredet wurde. Dahinter verbarg sich offensichtlich die panische Angst, dass die „Konspiration“ des heimlichen Vorgehens an der Medizinischen Fakultät nicht gesichert sein könnte. Warum sonst der ganze Aufwand? Die Staatssicherheit war für die Überprüfung der Arbeit auf der Neugeborenenstation der Uniklinik gar nicht zuständig. Das war Sache des Kreisarztes oder des Ministeriums für Gesundheitswesen. 

Die Akten offenbaren auch, dass die Staatssicherheit selbst über zuverlässige hauptamtliche Ärzte verfügte, die jeden Auftrag ohne zu zögern erfüllten und unerkannt in den öffentlichen Krankenhäusern tätig werden konnten. Medizinalrat Dr. med. Joachim W. war als Gynäkologe hauptamtlicher Arzt der Staatssicherheit und zur Begründung seiner Beförderung zum Major im Jahre 1983 hieß es: „Als Leiter des ihm anvertrauten Dienstkollektivs hat er es verstanden, mit Umsicht, Eifer und Fleiß die vielfältigen organspezifischen Aufgaben in hoher Qualität zu erfüllen.“ Vier Jahre später wurde er zum Oberstleutnant befördert mit der Begründung: „Die ihm übertragenen militärmedizinischen und militärtschekistischen Aufgabenstellungen erfüllt er in sehr guter Qualität und mit hoher Einsatzbereitschaft.“

Ein Gynäkologe der Staatssicherheit hatte „organspezifische“, „militärmedizinische“ und „militärtschekistische“ Aufgaben, ohne dass die erhalten gebliebenen Akten darüber aufklären, welche Tätigkeiten das konkret waren. Gehörte die Ausarbeitung von fiktiven Krankenberichten für Neugeborene dazu? Wurde dieser Gynäkologe unerkannt auf Entbindungsstationen tätig, und welche „organspezifischen Aufgaben“ hatte er dann zu erledigen? 

Keiner will sich erinnern können

In den Akten des Bundesarchivs wurden interessante Unterlagen zu einem „Sondermittelkonto 6836-20-3117“ gefunden, das seit 1973 bei der Staatsbank der DDR geführt wurde. Offiziell war es ein Konto der Versorgungseinrichtung des Ministerrates. Tatsächlich handelte es sich um ein Schwarzgeldkonto der Staatssicherheit, das jeglicher Finanzkontrolle entzogen war. Die Belege wurden jährlich vernichtet, und im März 1990 hatte dieses Konto immerhin noch einen Bestand von über eine Million Mark, konkret 1.214.944,09 Mark. Das lässt erahnen, welche enormen Summen jahrelang über dieses illegale Konto an die Staatssicherheit geflossen sind. Welche schmutzigen Geschäfte wurden hier unerkannt finanziell abgewickelt, auch eine Adoptionsvermittlung von Neugeborenen ins westliche Ausland gegen Devisen? 

Das Schweigekartell hält bis heute, und Antworten auf diese Fragen bekommt man auch 30 Jahre nach dem Untergang des SED-Staates nicht.

Dr. Heidrun Budde ist Autorin einer 164-seitigen Monografie zu diesem Thema. „Verstorbene Babys in der DDR? Fragen ohne Antorten“ ist dieses Jahr im Hamburger Verlag Tredition erschienen.