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17.07.20 / Debatte Allmählich werden die wirtschaftlichen Folgeschäden der Maßnahmen zur Eindämmung des Coronavirus sichtbar. Das wirft die Frage auf, ob der Lockdown gerechtfertigt war? / „Wir haben unverhältnismäßig gehandelt“ / Warum jede einzelne Regierung für sich allein richtig auf die Pandemie reagiert hat, alle zusammen jedoch falsch gehandelt haben

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 29 vom 17. Juli 2020

Debatte Allmählich werden die wirtschaftlichen Folgeschäden der Maßnahmen zur Eindämmung des Coronavirus sichtbar. Das wirft die Frage auf, ob der Lockdown gerechtfertigt war?
„Wir haben unverhältnismäßig gehandelt“
Warum jede einzelne Regierung für sich allein richtig auf die Pandemie reagiert hat, alle zusammen jedoch falsch gehandelt haben
René Nehring

Im Gespräch mit Bernd Raffelhüschen

Vor wenigen Tagen sorgte der Generationenforscher Bernd Raffelhüschen mit der Erkenntnis für Furore, dass die Lockdown-Maßnahmen zur Bekämpfung der Corona-Pandemie zwar kurzfristig Leben gerettet haben, langfristig jedoch unsere Gesellschaft Lebenszeit kosten. Ein Gespräch über seine Berechnungen, die Abwägung zwischen akuten Entscheidungen und deren langfristigen Folgen sowie über den Zusammenhang von Wohlstand und Gesundheit einer Nation. 

Herr Raffelhüschen, Sie haben mit Ihrer jüngsten Studie für Diskussionen über den Sinn der Lockdown-Maßnahmen gesorgt. Was genau haben Sie herausgefunden? 

Bernd Raffelhüschen: Wir haben herausgefunden, dass das, was jeder Einzelne im Grunde richtig gemacht hat, um kurzfristig die Ausbreitung der Pandemie zu verhindern, in der Gesamtheit langfristig falsch war. Durch die weltweiten Lockdown-Maßnahmen – es war ja nicht nur die deutsche Politik, die das öffentliche Leben dramatisch heruntergefahren hat – wurden negative Wachstumsimpulse gesetzt, die auf lange Sicht zu einer Reduktion des technischen Fortschritts und damit auch des medizinisch-technischen Fortschritts führen. Das heißt, wir werden zwar auch in Zukunft länger leben, aber wir werden nicht mehr so viel länger leben wie wir ohne die Corona-Pandemie gelebt hätten. 

Wie kommen Sie zu dieser Erkenntnis? 

Wir haben uns angesehen, wieviel wirtschaftliches Wachstum in normalen Zeiten ein Mehr an Lebenserwartung induziert. Die Corona-Pandemie kostet jeden Einzelnen von uns im optimistischsten Durchschnittsszenario nicht mehr als 14 Tage an zusätzlicher Lebenserwartung, die wir anderenfalls gehabt hätten. Das klingt nicht viel. Wenn Sie diese 14 Tage jedoch auf 80 Millionen Deutsche hochrechnen, dann sind das über drei Millionen (!) Lebensjahre. Das heißt, mit der kurzfristigen Lebensverlängerung Einzelner haben wir die Lebenserwartung für alle reduziert. Jetzt ist es ein Gebot der Verhältnismäßigkeit abzuwägen, wie viel Lebensjahre wir durch den Lockdown kurzfristig gewonnen haben – und wie viel Lebensjahre wir langfristig verlieren werden. 

Zu welchem Ergebnis sind Sie gekommen? 

Das Ergebnis ist relativ einfach. Ohne eine konzertierte internationale Aktion war es für jede Regierung richtig, den Lockdown zu machen und damit Menschenleben, im Regelfall von alten Menschen, zu verlängern. Das hat uns – je nach Szenario – statistisch zwischen dreißig- und dreihunderttausend Lebensjahren eingebracht. Hätte man überall in der Welt versucht, der Pandemie mit der Laissez-faire-Haltung der Schweden zu begegnen, dann hätten wir diese Lebensjahre zweifellos verloren. 

Allerdings wären diese Toten ohnehin irgendwann gestorben, und zwar – wenn man sich das Alter der Betroffenen anschaut – vermutlich schon bald. Wir haben im besten Szenario circa 300.000 Lebensjahre durch den Lockdown gewonnen, in dem Falle, dass wir ihn unterlassen hätten, jedoch eine zusätzliche Lebenserwartung von zwischen drei und dreißig Millionen Lebensjahren verloren. 

Was nützt uns dieses Wissen jetzt noch? 

Das ist eine wichtige Frage. Unsere Studie bringt natürlich nichts für die Vergangenheit. Aber sie ist wichtig in Hinsicht auf die nächsten Ausbrüche des Corona-Virus‘, die mit Sicherheit kommen werden. Wenn wir wieder vor der Abwägung stehen, welche Maßnahmen wir ergreifen müssen, brauchen wir eine rationale Diskussion – und eine entsprechende Grundlage dafür. 

Gehört dazu auch die Erkenntnis, dass wir nicht jeder Gruppe der Gesellschaft gegenüber gleichermaßen gerecht werden können? 

Das ist ein ganz wichtiger Aspekt. Wir brauchen wirtschaftliche Aktivität. Sozialleistungen müssen zuvor immer erst erwirtschaftet werden. Wir leben nicht davon, dass wir uns gegenseitig umeinander kümmern, sondern wir leben davon, dass wir ökonomischen und technischen Fortschritt generieren. Um es einmal deutlich zu sagen: Wenn wir die Wertschöpfungsketten so weit unterbrechen, dass wir keine Beatmungsgeräte mehr entwickeln und herstellen können, dann können wir niemanden mehr beatmen. Damit ist auch niemandem geholfen. 

Würden Sie also für künftige Pandemien das schwedische Laissez-faire-Modell empfehlen? 

Das ist meine Handlungsempfehlung. Wir hätten dadurch kurzfristig zwar mehr Tote zu beklagen, aber langfristig hätten wir mehr Lebensjahre für alle gewonnen. Durch den bisherigen Umgang mit der Pandemie haben im Grunde alle verloren. Auch die Alten haben ja an mittlerer Lebenserwartung eingebüßt. Nicht zuletzt sollten wir uns daran erinnern, dass die Alten in jeder Generation von den Jungen leben. 

In Bezug auf Schweden wird argumentiert, dass auch dort – neben den hohen Todeszahlen – die Wirtschaftsleistung zurückgegangen ist.

Ein Land allein kann ja auch nicht verhindern, dass die Wertschöpfungsketten der Welt zusammenbrechen. Dies zu verhindern hätten wir nur geschafft, wenn alle Nationen sich darauf verständigt hätten, weiterzumachen wie bisher und lediglich die Alten und Kranken zu isolieren. Dann hätten wir weiterhin ein weltweites Wirtschaftswachstum gehabt, das nicht zuletzt auch ein Mehr an medizinisch-technischem Fortschritt für alle generiert hätte. 

Sie haben in den ersten Reaktionen auf Ihre Studie zum Teil heftigen Widerspruch erfahren. Ein Argument lautet, dass sich technischer Fortschritt wieder aufholen lässt, während der Tod eines Menschen irreversibel ist. 

Diesen Gedanken haben wir durchaus berücksichtigt. Wir haben einkalkuliert, dass ein Aufholen der verloren gegangenen technischen Fortschritte auch zu einem geringeren Verlust an durchschnittlicher Lebenserwartung führen würde. Aber auch dann ist diese Lebenszeit unwiderruflich verloren. Wenn der Lockdown und der damit verbundene Wirtschaftseinbruch jedoch länger dauert, reduziert sich auch der technische Fortschritt und damit die Lebenserwartung der Menschen, übrigens auch für die Alten und Kranken. 

Durch die verschiedenen Szenarien kommen wir auf einen Korridor von drei bis dreißig Millionen Jahren, die uns der Lockdown in Gänze kostet. Doch egal, von welchem Szenario wir ausgehen: Wenn wir berücksichtigen, dass wir durch den Lockdown kurzfristig in Gänze maximal 300.000 Lebensjahre gewonnen haben, stellt sich die Frage der Verhältnismäßigkeit in jedem Fall. 

Das heißt, die Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie waren unverhältnismäßig?

Absolut. Wir haben unverhältnismäßig gehandelt. Allerdings hätte ich zunächst einmal auch so agiert wie die Entscheider in der Politik. Und zwar aus zwei Gründen: Zum einen wusste anfänglich niemand, wie gefährlich das aktuelle Coronavirus ist. Zweitens dürfen wir nicht vergessen, dass wir in einer alternden Gesellschaft leben, in der der Medianwähler schon fast im Rentenalter ist. In einer solchen Gesellschaft müssen Politiker Vorsichtsmaßnahmen zugunsten der Alten stets unverhältnismäßig hoch stellen, da ihre Wählermacht einfach zu groß ist. Die Kinder von heute, deren Zukunft durch das Regierungshandeln beeinträchtigt wird, haben erst in einem Jahrzehnt Wahlrecht. Das Problem ist: Die Toten von heute kann man sehen; verlorene Lebenserwartung, die sich erst in 30 oder 40 Jahren statistisch bemerkbar macht, ist nur schwer greifbar. 

Dies stellt jedoch den Generationenvertrag, so wie wir ihn kennen, infrage.

Der Generationenvertrag ist schon seit langem fraglich. Denn immer mehr Alte müssen von immer weniger Jungen immer länger finanziert werden. Wir haben einen völlig überzogenen Sozialstaat, nicht nur im Sinne der Lasten für diejenigen, die ihn finanziell tragen, sondern auch in der Anspruchshaltung bezüglich der Leistungen. Wir können jedoch nicht – auch nicht in der medizinischen Versorgung – alles Notwendige für alle Menschen bereitstellen. 

Ein anderer Kritikpunkt ist, dass Ihre Aussagen lediglich auf statistischen Daten basieren und es keine eigenen Erhebungen gibt.

Das ist richtig. Wir haben bewusst ausschließlich Daten benutzt, die jeder im Statistischen Jahrbuch nachlesen kann. Unsere Studie hat nicht den Anspruch einer hochwissenschaftlichen Zeitreihenanalyse, die jeden Nebeneffekt mit einbezieht. Wir wollten einfach nur die Frage stellen, ob die zur Bekämpfung der Corona-Pandemie ergriffenen Maßnahmen verhältnismäßig waren? Und zwar nicht deutschland-, sondern weltweit. Sind die Kosten, die wir damit induzieren, die Nebenwirkungen der Therapie, nicht tödlicher als die Krankheit selbst? Und dies lässt sich anhand der vorliegenden Daten eindeutig beantworten, weil es einen klaren Zusammenhang zwischen dem ökonomischen Wohlstand einer Nation und deren allgemeiner Gesundheit gibt. 

Schon die bisher erkennbaren Folgeschäden des Lockdowns zeigen uns, dass wir einen solchen Schritt bei der nächsten Welle nicht einfach wiederholen können. Wie viel Millionen von Arbeitslosen, Frustrierten, Deprimierten und Selbstmördern wollen wir haben? Wir müssen also zur Normalität zurückkehren. 

Haben sich die Verantwortlichen in der Politik zu sehr auf den Rat der Virologen gestützt?

Ja. Natürlich war es notwendig, zur Analyse der Gefahren eines neuen Virus‘ zunächst auf die zuständigen Experten zu hören. Allerdings es wäre besser gewesen, bei der Verhängung der Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie fachübergreifende Stäbe zu bilden, in denen dann auch Ökonomen, Psychologen und andere Experten vertreten gewesen wären. 

Aber nochmal: Jede Regierung, jedes Land hat zunächst für sich richtig gehandelt. Alle zusammen haben jedoch das Falsche gemacht. 

Verdeutlicht uns die Krise, dass der Wohlstand einer Gesellschaft – zu dem neben materiellen Gütern auch die Lebensqualität und das Gesundheitswesen gehören – nicht ohne ökonomischen Fortschritt zu haben ist? 

Absolut! Die Erfahrungen der letzten Monate sind ein klarer Beleg für den Segen von ökonomischem Wachstum. Dieses wird bei uns gern für alle denkbaren Fehlentwicklungen verantwortlich gemacht: für die Zerstörung des Klimas und der natürlichen Ressourcen, für die Zerstörung von Lebensräumen und sozialen Bindungen. Aber: Nur Wachstum erlaubt es uns, die Alten und Kranken immer besser zu pflegen und zu heilen; allein mit einer intakten Wirtschaft sind wir überhaupt in der Lage, die Menschheit zu ernähren. Wer auf Wirtschaftswachstum verzichten will, muss sich darüber im Klaren sein, dass er die Gesellschaft in eine Abwärtsspirale bringt, die am Ende zu weitaus schlechteren Lebensbedingungen für alle führt. 

Das Interview führte René Nehring. 






Prof. Dr. Bernd Raffelhüschen ist Direktor des Forschungszentrums Generationenverträge an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg. 

www.fiwi1.uni-freiburg.de