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17.07.20 / „Zersetzung“ / Der „leise“ Terror der Staatssicherheit / Durch Verunsicherung, Rufschädigung und Eingriffe in das Privatleben sollten in der DDR Oppositionelle ausgeschaltet werden

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 29 vom 17. Juli 2020

„Zersetzung“
Der „leise“ Terror der Staatssicherheit
Durch Verunsicherung, Rufschädigung und Eingriffe in das Privatleben sollten in der DDR Oppositionelle ausgeschaltet werden
Erik Lommatzsch

Man kann schon mal Dinge vergessen oder verwechseln. Da war man doch fest der Meinung, man habe etwa die Handtücher in der eigenen Wohnung am Morgen in einer bestimmten Reihenfolge aufgehängt. Nun kehrt man nach Hause zurück und findet das Ganze anders vor, als man es in Erinnerung hatte. Nicht schlimm. 

Beim zweiten Mal belächelt man sich vielleicht für sein offenbar nicht mehr ganz so sicheres Gedächtnis. Passiert das aber immer wieder und wechseln auch andere Dinge tagsüber die Plätze, obwohl niemand zu Hause ist, wird es zum Problem. Selbstzweifel und Unsicherheit wachsen. Wem erzählt man von solchen Wahrnehmungen? Eigenes Tun wird ausgebremst oder gar gelähmt.

Ein derartiges Vorgehen war nur eine Variante, die das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) der DDR nutzte, um unliebsame und oppositionelle Bürger einzuschüchtern und an der Fortsetzung ihrer Aktivitäten zu hindern. Hemmungslos brachen die Stasi-Agenten in Wohnungen ein, um Verunsicherung zu schaffen, ohne Hinweise auf den Urheber zu geben. Manchmal gestaltete sich die Angelegenheit auch als unmissverständliche Drohgebärde. Wer einen deutlichen Fußabdruck auf dem Schreibtisch bei einer ansonsten unveränderten und auch – wieder –  abgeschlossenen Wohnung vorfand, war sehr wohl in der Lage, das Signal zu verstehen. 

Wurde in der DDR die Opposition zunächst rigoros strafrechtlich verfolgt, etwa unter dem Vorwurf der „Kriegs- und Boykotthetze“, so erfolgte vor allem ab den 1970er Jahren ein Wandel. Das Stichwort hieß nun „Zersetzung“, Ziel waren Einzelpersonen sowie Gruppierungen. Gründe für den Übergang lassen sich mehrere finden. 

Märtyrer verhindern

So strebte die zweite deutsche Diktatur nach internationaler Anerkennung, wobei offener Terror gegen Teile der eigenen Bevölkerung kaum dienlich war. Zudem war das MfS der Auffassung, dass ein freier, aber eingeschüchterter Oppositioneller eher im Sinne der Machthaber sei als ein inhaftierter und durch West-Medien bekannt gemachter Märtyrer. Als „Nachteil“ nahm das MfS in Kauf, dass der Abschreckungseffekt für die breite Öffentlichkeit in der Regel entfiel. Die nicht selten abstruse Dimensionen annehmenden „Zersetzungsmaßnahmen“ hatten auch den Effekt, dass ein entsprechender Verdacht von Oppositionellen nur selten ernst genommen wurde. 

Das ganze Ausmaß der perfiden Aktivitäten wurde erst nach dem Mauerfall durch die Akten offenbar. Schriftlich fixiert wurden die Überlegungen zu den schon zuvor angewendeten „Zersetzungspraktiken“ in der „Richtlinie Nr. 1/76 zur Entwicklung und Bearbeitung Operativer Vorgänge (OV)“ des MfS vom Januar 1976. Hier heißt es etwa unter „Zielstellung und Anwendungsbereiche“ in klassischem DDR-Amtsdeutsch: „Maßnahmen der Zersetzung sind auf das Hervorrufen sowie die Ausnutzung und Verstärkung solcher Widersprüche bzw. Differenzen zwischen feindlich-negativen Kräften zu richten, durch die sie zersplittert, gelähmt, desorganisiert und isoliert und ihre feindlich-negativen Handlungen einschließlich deren Auswirkungen vorbeugend verhindert, wesentlich eingeschränkt oder gänzlich unterbunden werden.“ 

Als „Formen der Zersetzung“ galten etwa „systematische Diskreditierung des öffentlichen Rufes“, wahre, überprüfbare und unwahre Angaben sollten verknüpft werden. Anzustreben waren „gegenseitige Verdächtigungen innerhalb von Gruppen“. Konkret wird die „Richtlinie“ im Abschnitt über „Mittel und Methoden“, in dem die „Verwendung anonymer oder pseudonymer Briefe, Telegramme oder Telefonanrufe“ empfohlen wurde, ebenso der Einsatz „kompromittierender Fotos“ oder „die gezielte Verbreitung von Gerüchten“.

Prominente Opfer

In der „Juristischen Hochschule“ des MfS gab es eigens das Fach „Operative Psychologie“, das „Kenntnisse“ auf diesem Gebiet vermittelte. Suizide von Betroffenen der „Zersetzungsmaßnahem“ wurden in Kauf genommen.

Das MfS kannte keine Tabus. So heißt es etwa im „Plan zur Verunsicherung der Vorgangsperson zum Operativ-Vorgang ‚Lyrik‘“ – dabei handelt sich um den der DDR wenig genehmen, feinsinnigen Dichter Reiner Kunze, gegen den umfangreiche „Zersetzungsmaßnahmen“ in Gang waren –, dass es das Ziel sei, „das Ansehen der Vorgangsperson zu schädigen“. Dazu bekam beispielsweise ein Inoffizieller Mitarbeiter (IM) die Anweisung, Kunzes Frau, eine Zahnmedizinerin, wissen zu lassen, dass ihre Kollegen sich nicht mit den Auffassungen ihres Mannes „identifizieren“. Kunzes Tochter wurde daran gehindert, adäquat beruflich Fuß zu fassen. Der Schriftsteller Jürgen Fuchs war auch nach Haft und erzwungener Ausreise nach West-Berlin noch im Visier der DDR. Laut MfS-Bericht von 1982 wurde er „kontinuierlich, vor allem in den Nachtstunden in seiner Wohnung angerufen“. Bestellungen und Dienstleister forderte man in seinem Namen an.  

Befriedigt stellt der Bericht fest, dass sich Fuchs „belästigt fühlt und darüber verärgert ist“, allerdings nicht das MfS als Verursacher vermute. Dem Bürgerrechtler Wolfgang Templin wurde in der DDR zentnerweise von ihm nicht bestelltes Haustierfutter geliefert. Interessenten für angeblich von Templin per Kleinanzeige angebotene, begehrte Waren liefen zu Scharen auf. Die Beziehung des Ehepaars Gerd und Ulrike Poppe versuchte das MfS mittels eines eingesetzten IM zu zerstören. Die Beispiele der „Zersetzungsmaßnahmen“, von Fuchs zurecht als „leiser Terror“ klassifiziert, ließen sich fortsetzen. Wirksames Mittel der Verunsicherung war es, innerhalb von Oppositionsgruppen den fälschlichen Verdacht zu streuen, ein Mitglied arbeite mit dem MfS zusammen. Darunter litt etwa der schließlich aus der DDR ausgebürgerte Jenaer Siegfried Reiprich. 

Reiprich, seit 2009 und noch bis Ende November dieses Jahres Geschäftsführer der „Stiftung Sächsische Gedenkstätten“, fragte kritisch zu den heruntergespielten Vorgängen in Stuttgart vom Juni, ob es sich um eine „Bundeskristallnacht oder ‚nur‘ ein südwestdeutsches Scherbennächtle“ gehandelt habe. Dem langjährig von MfS-„Zersetzungsmaßnahmen“ betroffenen DDR-Oppositionellen wurde daraufhin seitens der sächsischen Kultusministerin beschieden, er „verkenne die Wesensmerkmale politischer Gewaltherrschaft“.