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24.07.20 / Fortschrittliche Pädagogin und Schriftstellerin / Jeanne Marie von Gayette-Georgens / Fand einst als Frau Aufnahme in die Leopoldina

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 30 vom 24. Juli 2020

Fortschrittliche Pädagogin und Schriftstellerin
Jeanne Marie von Gayette-Georgens
Fand einst als Frau Aufnahme in die Leopoldina

Jeanne Marie von Gayette-Georgens stammte aus Hinterpommern, erlangte durch entsprechende Literatur, eigenes Erleben und durch Reisen eine gesellschaftskritische Haltung und fand in Jan-Daniel Georgens einen Gesinnungsfreund, mit dem sie sich besonders einer Reform der Pädagogik zuwandte. Sie gründete mit ihm eine ungewöhnliche Erziehungsanstalt, entwickelte eine eigene Beschäftigungstheorie und lieferte dabei vielgestaltige Anregungen für die Reformpädagogik Friedrich Fröbels. Das trug ihr einst die Berufung in die berühmte Leopoldina ein, das war für eine Frau damals überaus ungewöhnlich. Mehr noch. Die Frau aus Hinterpommern engagierte sich für eine gemäßigte Emanzipation der Frauen, verfasste „kämpferische Romane“ sowie Ratgeber und gab verschiedene Zeitschriften heraus. Damit erreichte sie auch über ihren Tod vor 125 Jahren hinaus eine Nachwirkung. 

Doch heute ist Gayette-Georgens weitgehend vergessen. Sie wird nur noch in aktuellen Nachschlagewerken über namhafte Frauenpersönlichkeiten wie dem „Lexikon der 1000 Frauen“ von 2000 aufgeführt. Einige ihrer Liebesgedichte kursieren allerdings auch im Internet.

Die fortschrittliche Pädagogin und Schriftstellerin wurde am 11. Oktober 1817 unter dem Namen Jeanne Marie von Gayette in Kolberg geboren. Die geschichtsträchtige Stadt an der Mündung der Persante in die Ostsee wurde im 9. Jahrhundert zur Ausnutzung von Salzquellen als pomeranische Siedlung gegründet und entwickelte sich im Mittelalter im Herzogtum Pommern zur Hansestadt, ehe sie im Westfälischen Frieden von 1648 an Brandenburg fiel. Sie heißt heute Kolobrzeg, gehört jetzt zur polnischen Woiwodschaft Westpommern und gilt als Kur- und Hafenstadt als Anziehungs- punkt für Touristen und Kurgäste. 

Vater Gayette hatte wohl hugenottische Vorfahren, war als Major der preußischen Armee in Kolberg stationiert und ermöglichte seiner vielseitig interessierten Tochter und deren Bruder eine umfassende Bildungsaneignung. Dazu gehörten auch die Werke der Aufklärung, die bedeutender zeitgenössischer Philosophen und die Schriften des Vormärz. Mit dieser Ausrichtung erlebte sie den polnischen Novemberaufstand von 1830 in greifbarer Nähe besonders bewusst. 

Die Unruhen, die sich wegen der Unterdrückung Kongresspolens durch den Zaren an der Pariser Julirevolution orientierten, wurden von den Warschauer Kadetten vor­angetrieben, führten zu einer zeitweiligen polnischen Regierung und wurden dann 1831 durch zaristische Truppen niedergeschlagen. In ganz Europa sympathisierten fortschrittliche Kräfte mit Polen. Mittendrin Jeanne Marie von Gayette. Sie fühlte mit den 50.000 Polen, die emigrierten und besonders mit den 80.000 Polen, die nach Sibirien in die Verbannung kamen. 

Als sie danach mit ihrem Bruder Bildungsreisen durch Deutschland und Südeuropa unternahm, traf sie überall auf Gesinnungsfreunde. 

Aber dann gab es eine Zäsur. Ihr Bruder starb überraschend beim Aufenthalt in Venedig. Sie kehrte zurück in die Obhut ihres Vaters, korrespondierte in der Folge mit Gesinnungsfreunden und kam dabei Jan Daniel Georgens näher, den sie zuvor auf Reisen kennengelernt hatte. Georgens war sechs Jahre jünger, überaus belesen und orientierte sie auf die Schriften des Reformpädagogen Johann Heinrich Pestalozzi. Mehr noch. Er gründete in Worms für kurze Zeit eine eigene Schule im Sinne seines Vorbildes. Seine Brieffreundin war begeistert. Beide kamen sich näher, heirateten und zogen nach 1848/49 nach Wien, wo sie ab 1854 zusammen mit Heinrich Marianus Deinhardt eine ungewöhnliche Bildungsanstalt für behinderte Kinder gründeten. Sie bekam den Namen „Levana“, der sich auf die römische Schutzgöttin für die Neugeborenen und eine frühe Schrift von Jean Paul aus dem Jahre 1807 bezog, der darin davon ausgeht, dass jeder Mensch grundsätzlich entwicklungsfähig ist und dafür materielle und soziale Lebensgrundlagen benötigt. Das galt für Gayette und Georgens auch für behinderte Kinder. Beide verfassten entsprechende Schriften, erkannten die Möglichkeiten der spielerischen Beschäftigung für die Bildungsaneignung und hatten für ihre Anstalt mit großen Anfangsschwierigkeiten zu kämpfen. Gayette entwickelte in diesem Zusammenhang eine eigene Beschäftigungstheorie, die sie an heranwachsenden Mädchen mit der Heranführung an Formen und Anschauungsmitteln  testete. Dabei kam es zum Gedankenaustausch mit Friedrich Fröbel, mit dem Georgens schon länger bekannt war. Das führte dann bei Fröbel zur Entwicklung der bekannten pädagogischen Grundformen. 

Zum Bekanntenkreis des Pädagogenpaares in Wien gehörten auch andere Berühmtheiten. Das reichte von Ludwig Feuerbach über Arthur Schopenhauer bis zu Karl Gutzkow. 1866 gab Georgens die Leitung der Schule ab. Das Paar wechselte 1866 nach Berlin, wo beide in der Folge vor allem als Schriftsteller und Herausgeber Bekanntheit erlangten. Nachdem Jeanne Marie von Gayette-Georgens schon in Wien eine pädagogische Zeitschrift herausgegeben hatte, gründete sie ab 1867 weitere Zeitschriften, die sich mit den Möglichkeiten der Frauenbildung sowie -arbeit und ihrer Emanzipation befassten. Dazu gesellten sich Ratgeber, Unterhaltungsprosa, Liebesgedichte und mit ihrem Mann ein illustriertes Spielbuch. 

Nach dem Tod ihres Mannes 1886 in Bad Doberan blieben der Witwe noch neun Schaffensjahre. Sie starb am 14. Juni 1895 in Leipzig. Da war sie 77 Jahre alt.