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31.07.20 / Zweiter Weltkrieg / Die letzten Zeitzeugen berichten / Der Historiker und Journalist Christian Hardinghaus lässt Wehrmachtssoldaten zu Wort kommen

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 31 vom 31. Juli 2020

Zweiter Weltkrieg
Die letzten Zeitzeugen berichten
Der Historiker und Journalist Christian Hardinghaus lässt Wehrmachtssoldaten zu Wort kommen
Dagmar Jestrzemski

Seit dem Kriegsende vor 75 Jahren ist der Alltagsgeschichte der rund 4,5 Millionen deutschen Soldaten, die im Zweiten Weltkrieg an der Front gekämpft haben, kaum Aufmerksamkeit gewidmet worden. Für eine vorurteilsfreie Betrachtung war kein Platz in unserer Erinnerungskultur, da die Aufarbeitung der Verbrechen des NS-Regimes viele andere Themen überlagert hat und die Gräuel des Holocaust eine Art Schockstarre in der Gesellschaft auslösten. Aus der Legende einer sauberen Wehrmacht sei die einer verbrecherischen Wehrmacht geworden, schreibt der Historiker und Journalist Christian Hardingshaus (geboren 1978) in seinem Buch „Die verdammte Generation. Gespräche mit den letzten Soldaten des Zweiten Weltkriegs“. Er bedauert, dass es im Rahmen der Historiografie unterlassen wurde, mit den Eltern und Großeltern, sofern sie willig waren, über ihren Kriegseinsatz als Soldaten und Flakhelfer sowie über alles schmerzlich erfahrene Leid infolge des Krieges zu reden. Das deutsche Identitätsproblem stehe in engem Zusammenhang mit diesem Versäumnis, meint Hardinghaus.

Er ist überzeugt: Kein Buch und kein Film führt die nachfolgenden Generationen so nah an die Realität des schlimmsten Krieges aller Zeiten heran wie die Erfahrungsberichte der einfachen Soldaten. Er hat die wohl letzte sich bietende Chance ergriffen, um Interviews mit einigen hochbetagten Wehrmachtssoldaten zu führen und sie nach ihren Erlebnissen bei ihren Kriegseinsätzen zu befragen. Seine Gesprächspartner waren 88 bis 100 Jahre alt. Sechs von ihnen verstarben im Zeitraum der Befragung von 2016 bis 2020. Für sein Buch hat der Autor aus seinem Privatarchiv 13 Kriegsgeschichten ausgesucht, wobei Aspekte wie unterschiedliche Waffengattungen und verschiedene Einsatzorte berücksichtigt wurden. Es kam ihm darauf an, ein möglichst authentisches Bild des Kriegserlebens „eines durchschnittlichen Wehrmachtssoldaten“ zu vermitteln. Die letzten Zeitzeugen berichten schonungslos ehrlich über ihre Erfahrungen von Gewalt, Angst und Hunger, von Wut und Verzweiflung, wenn ihre Kameraden bei den Kämpfen starben, sowie über ihre höchst unterschiedlichen Erfahrungen während der Kriegsgefangenschaft. Sie äußerten sich freimütig über ihre Einstellung zur NS-Ideologie, und an alle richtete Hardinghaus die Frage, ob beziehungsweise was sie vom Holocaust gewusst haben.  

Verdammung der Eltern

In die anonymisierten Berichte wurden ergänzend Erläuterungen zur Einordnung in das Kriegsgeschehen eingefügt. Anerkennung gebührt dem Autor besonders für die ausgewogene Bewertung der Sozial- und Forschungsgeschichte im einleitenden Kapitel „Zwischen Hysterie und Historie“ sowie für seine differenzierten Ausführungen im Kapitel „Die Wehrmacht – eine historische Beurteilung“. Er stellt fest: Dass die Geschichtsforschung sich kaum mit den Einzelschicksalen von Soldaten beschäftigt hat, sei der lange vorherrschenden einseitigen Aufmerksamkeit für die Aufarbeitung von Wehrmachtsverbrechen geschuldet. Es sei höchst bedauerlich, dass diese Fokussierung auf Seiten der Nachkriegsgenerationen einer leichtfertigen Verdammung der Eltern und Großeltern als Nationalsozialisten Vorschub geleistet habe. Spätere Aussagen von Historikern zu der verhältnismäßig geringen Anzahl von deutschen Kriegsverbrechen unter Beteiligung der Wehrmacht fanden kaum mehr Beachtung.

Die weit verbreitete moralische Verurteilung der Wehrmachtssoldaten hat die ehemaligen Soldaten, Hitlerjungen und Flakhelfer frustriert. Alle erklärten, dass sie sich in den medialen Berichten und Interpretationen nicht wiedergefunden hätten. Der Autor konstatiert: „Sie gehörten einer verdammten Generation an: verdammt zum Kämpfen, verdammt zuerst zum Schweigen, später dafür verdammt, am Krieg teilgenommen zu haben.“ Dieses Buch liefert auf jeden Fall einen späten, aber wichtigen Beitrag zu einer zukünftig hoffentlich ausgewogeneren Erinnerungskultur.

Christian Hardinghaus: „Die verdammte Generation. Gespräche mit den letzten Soldaten des Zweiten Weltkriegs“, Europa Verlag, Berlin 2020, gebunden, 328 Seiten, 20 Euro