28.03.2024

Preußische Allgemeine Zeitung Zeitung für Deutschland · Das Ostpreußenblatt · Pommersche Zeitung

Suchen und finden
14.08.20 / Kolumne / Kulturelle Aneignung

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 33 vom 14. August 2020

Kolumne
Kulturelle Aneignung

Manch ein Leser wird sich vielleicht noch an die US-Filmschauspielerin Bo Derek erinnern, ein „Sexsymbol“ der 70er und 80er Jahre und leicht erinnerlich wegen einer Bilderserie, in der sie kaum bekleidet am Strand liegend zu sehen war, mit blonden Rastalocken auf dem Kopf. Damals wusste man noch nicht, dass die Schauspielerin damit gegen ein politisch hochbrisantes Tabu verstoßenhatte, doch heute ist das ganz anders. Rastalocken bei einer Weißen, noch dazu einer blonden Weißen? Völlig unmöglich und politisch restlos inkorrekt. Denn Rastalocken, oder, wie man heute wegen der Wichtigkeit auf Englisch sagt, Dreadlocks, sind nämlich Ausdruck schwarzen Selbstbewusstseins, der Negritude, wie es auf Französisch heißt, denn auf Deutsch wäre das Wort undenkbar.

Das Problem, das nicht nur das Haupthaar einer weißen Frau betrifft, besteht in der, wie es heißt, „kulturellen Aneignung“, also darin, dass ein Weißer die Frisur, das Gehabe, die Kleidung oder andere typische Kennzeichen von Schwarzen übernimmt. Das aber ist unstatthaft, weil beleidigend und rassistisch. Dies wurde in diesen Tagen im Rahmen der weltweiten Rassismusdebatte offenbar. 

Bo Derek ist Geschichte, daher sei ein anderes, aktuelles Beispiel auch aus den USA nachgereicht, um die Wichtigkeit der Art zu unterstreichen, wie man eine politisch korrekte Frisur zu wählen hat. In Seattle, Washington, wurde im Netz eine weiße, örtlich bekannte Geschäftsfrau, Rachel Marshall, wegen ihrer Dreadlocks massiv angegriffen. Der Druck, nicht nur die Haare anders zu tragen, sondern sich auch öffentlich zu entschuldigen, steigerte sich derartig, dass die Frau bedingungslos kapitulierte: „Es tut mir so leid“, bekannte sie auf Instagram, „dass es so lange gedauert hat, meinen Fehler einzugestehen und auszusprechen.“ Der Termin, da sie die Locken werde abschneiden lassen, stehe schon fest.

„Es tut mir so leid“

Eine weltbewegende Sache wie die kulturelle Aneignung beschränkt sich natürlich nicht auf Frisuren. Über den ganzen Umfang des Gedankens hatte man bei der südafrikanischen Kampfgruppe ANC Überlegungen angestellt, sobald sie im Jahre 1994 an die Macht gekommen war und zur Staatspartei mutierte. Ihr radikaler Flügel trat damals dafür ein, mit der weißen Herrschaft am Kap auch alles auszurotten, was damit zusammenhängt. Eine Parole war: „Ein Siedler – eine Kugel“, doch das betraf nur die weißen Menschen. Die Wut aber galt allem, was sie mitgebracht hatten, Tieren wie Pflanzen wie Lebensform. All das sollte getilgt werden.

Dann aber trat einer der seltenen Fälle ein, da der Fanatismus vor der Wirklichkeit zurückstecken muss. Denn hätte sich die radikale Forderung durchgesetzt, so gäbe es heute in dem einst wirtschaftlich bei weitem stärksten Land Afrikas keine asphaltierten Straßen mehr und keine Steinbauten, keine Automobile und kein Fernsehen, keinen Lippenstift und keine Mittel zum Glätten von Locken, kein Penicillin und keine Zahnpasta, es gäbe keinen Weinbau, keine Zeitung und kein Buch, keinen Hochseehafen und keine Überseeschifffahrt. Ja, vor allem – was dem ANC in ausnehmender Weise schmerzlich wäre – es gäbe keine Feuerwaffen. Es gäbe Afrika im jungfräulichen Zustand, eine Idylle ohne Weiße, und die Schwarzen könnten ihre Auseinandersetzungen in der traditionellen Weise austragen.

Dass es so nicht gekommen ist, liegt an einer Erscheinung, die in der Kulturgeschichte „Diffusionismus“ genannt wird. Und davor rettet keine Wut aufs Fremde, mag sie noch so heiß sein. Hinter dem hässlichen Fremdwort verbirgt sich die Theorie, dass sich kulturelle Errungenschaften über den Ort ihrer Entstehung hinaus verbreiten. Die gegenteilige Auffassung sagt, die Dinge seien mehrmals und unabhängig voneinander hervorgebracht worden. Wie meist bei einem solchen Streitfall gibt es ein Sowohl-als-auch. Denn niemand kann bestreiten, dass Kennzeichen der kulturellen Entwicklung weitergetragen werden.

Diffusionismus

So stellt kein Mensch in Frage, dass die Ackerkultur ihren Ausgang im Fruchtbaren Halbmond Mesopotamiens genommen und sich über ganz Europa ausgebreitet hat. Was wäre wohl geschehen, hätte man sich bereits damals vor dem Vorwurf der „kulturellen Aneignung“ vorsehen müssen? Das dynastische Ägypten hat kulturell nach Süden ausgegriffen und die Meroe-Kultur in Nubien bewirkt. Doch zuvor schon wurde die Domestizierung von Rindern und Ziegen über das Niltal in Afrikas schwarzen Süden von den Bantuvölkern getragen. Die Buschleute hat diese Entwicklung indes nicht mehr erreicht. Die indogermanischen Tocharer haben China bleibend befruchtet. Dafür brachte Marco Polo die Nudeln nach Venedig. Das antike Indien hat weitum ausgestrahlt, nicht zuletzt nach Persien und von da ebenfalls bis Europa. Die Ziffern, die wir heute fälschlich nach ihren Überlieferern „arabisch“ nennen, stammen aus Indien. Und begünstigt wurden all diese Ströme durch einen transkontinentalen Handel, den es schon vor Tausenden von Jahren gegeben hat, ganz ohne die EU. In der Neuzeit wurde dieser Fluss zum Strom: Der Buchdruck verbreitete sich von Deutschland aus über die ganze Welt, ebenso der Computer des Konrad Zuse in unseren Tagen, England steuerte unter manch anderem die Dampfmaschine bei. Und ohne die Funktelegrafie des Italieners Marconi wäre die Welt heute nicht so, wie sie ist, was keinen Vorwurf gegen Marconi bedeuten soll. 

Natürlich hat die kulturelle Diffusion auch ihre Schattenseiten. Die Jahrhunderte andauernde europäische Dominanz hat zahllose Kulturen zerstört oder jedenfalls vorübergehend marginalisiert. Bei internationalen Kongressen bestimmt europäische Kleidung das Bild. Der Kaiserpalast in Tokio trägt einen griechischen Giebel. Und im letzten Winkel dieses Planeten trinkt man dasselbe süße Limonadenzeug wie überall sonst.

Der Autor ist ein christsoziales Urgestein und war lange Zeit Redakteur beim „Bayernkurier“.