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14.08.20 / Politik / Gefahr einer schleichenden Selbstjustiz / Ex-Verfassungsrichter Hans-Jürgen Papier warnt vor negativen Entwicklungen in unserer Gesellschaft

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 33 vom 14. August 2020

Politik
Gefahr einer schleichenden Selbstjustiz
Ex-Verfassungsrichter Hans-Jürgen Papier warnt vor negativen Entwicklungen in unserer Gesellschaft
Bernd Kallina

Mit dem markanten Gesicht einer stattlichen und lebenserfahrenen Persönlichkeit blickt der 76-jährige Hans-Jürgen Papier, Deutschlands höchster Richter a.D., von der Titelseite seines neuen Buches „Die Warnung. Wie der Rechtsstaat ausgehöhlt wird“ die Leser mit ernster Miene an. Und dieses Werk hat es auf vielfache Weise in sich. Der ehemalige Präsident des Bundesverfassungsgerichts beobachtet anhand einer Fülle von Besorgnis erregenden Beispielen die fortschreitenden Erosionserscheinungen des Rechtsstaates Bundesrepu-blik Deutschland. 

Im Überblick weist er auf die wunden Punkte hin: Vor dem Gesetz sind formal zwar alle gleich. Doch was geschieht, wenn geltendes Recht nicht mehr für jeden gilt und nicht ausnahmslos greift? Wenn gefällte Urteile nicht vollzogen werden? Wenn der Staat auf neue Entwicklungen in Zeiten von Digitalisierung, Globalisierung und Klimawandel nicht angemessen reagiert? Wenn die Balance zwischen Freiheit und Sicherheit verloren geht?

Das sind in Fragen gekleidete Warnungen, die Papier in bohrenden Zuspitzungen aufwirft und als Universalgelehrter spannend thematisiert, sie mit juristisch fundierten Meinungen versieht, die nicht nur Nachdenklichkeit auslösen sollen, sondern auch Konsequenzen erfordern. Der Bogen angesprochener Bereiche beginnt beim „Wert der Freiheit“, die bei den Grundrechten anfängt und als „Rückgrat unserer Demokratie“ zu gelten habe. Der Autor behandelt die gefährliche Entwicklung von „Selbstjustiz“ und vertritt dabei die Auffassung, dass Deutschland zum „Gangland“ geworden sei, denn, O-Ton Papier: „Im Dickicht der Großstädte entstehen Parallelwelten, die anderen Gesetzen folgen als den bundesdeutschen. Polizei und Politik sprechen nur ungern darüber, weil sie nicht zugeben mögen, dass sie gegenüber diesen Zuständen hilflos sind.“ 

Dann hebt er die „grenzenlose Herausforderung“ der globalen Digitalisierung hervor, deren Technologiesprung auch „die damit verbundenen grenzüberschreitenden Einflüsse auf Wirtschaft und Gesellschaft unser Rechtssystem vor völlig neue Herausforderung stellt“. 

In weiteren Kapiteln veranschaulicht Papier den „Kollisionskurs“ von Politik und Verfassung und beleuchtet „Die große Schwester: Europa und das Grundgesetz“. Im Schlusskapitel „Mehr Rechtsbewusstsein!“ greift er die verschiedenen Fäden seiner Warnungen nochmals auf und führt sie – stichpunktartig – in einem Plädoyer für die Zukunft unseres Staates argumentativ zusammen.

Auf das Kapitel „Kapituliert der Rechtsstaat? Von ‚Asyl‘ bis ‚Zuwanderung‘“ sei hier etwas ausführlicher deswegen eingegangen, weil es eine der gravierendsten Fehlentwicklungen im Deutschland der letzten Jahrzehnte darstellt und zu einer vorher nie da gewesenen Spaltung der Gesellschaft geführt hat: die sogenannte Flüchtlingskrise, beginnend seit 2015, in ihrer höchst umstrittenen Weise herbeigeführt und zu verantworten von Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU). 

Da lässt der Spitzenjurist keine pseudohumanitäre Ausrede gelten und konfrontiert das Mantra der Kanzlerin „Wir schaffen das!“ (oder: „Jetzt sind sie halt’ da!“) mit der eindeutigen Rechtslage, die sie ziemlich „nackt“ dastehen lässt. Zwar spricht sich Papier gegen das Wort von Horst Seehofer aus, der das von Merkel zugelassene Immigrationschaos mit einer „Herrschaft des Unrechts“ verglich, weil diese Begrifflichkeit zu sehr an die Gewalt- und Willkürherrschaft des NS-Regimes erinnere, aber auch an die SED-Diktatur in der DDR. Dennoch nennt er die Entscheidung, illegale Migranten massenhaft ins Land zu lassen, einen „Rechtsbruch“, mehr noch: „eine Kapitulation des Rechtsstaates.“ Im Klartext des Juristen schreibt er: „Auch wenn Teile der Gesellschaft das als inhuman werten: Es war rechtlich nicht in Ordnung, in einem bestimmten Zeitraum alle Migranten unbegrenzt einreisen zu lassen – eine Verletzung des deutschen Asylrechts wie auch der europäischen Dublin-III-Verordnung.“ 

Das Agieren der Kanzlerin hatte sich in mehrfacher Hinsicht als staatspolitisch katastrophal erwiesen, so Papier: „Der Großteil der Menschen kam erst nach dem berühmten Ausspruch der Kanzlerin, der sicher ein Signal für viele Tausende war, sich überhaupt erst auf den gefährlichen Weg über das Mittelmeer zu machen.“ Nicht, dass der Autor kein Verständnis für Beweggründe wie „Humanität, Barmherzigkeit und Nächstenliebe“ hätte. „Vom moralischen Standpunkt aus sind diese Prinzipien selbstverständlich ehrenhaft und anerkennungswürdig“, schreibt er. Aber, so Papier, in seiner Conclusio: „Subjektive und individuelle Vorstellungen von Solidarität und Hilfsbereitschaft können nicht an die Stelle des Gesetzes treten, sonst macht sich das Chaos breit.“ In der Tat: Anstelle einer kurzfristigen und robusten Grenzabwehr, für die die Bundespolizei ja einsatzbereit aufgestellt war und deren Einsatz die Kanzlerin verhinderte, hat sich massenweise Gewalt und Willkür rechtwidrig ins Land gespült und sorgte, siehe Köln zu Silvester 2015/16, und sorgt, jüngst bei aus dem Ruder gelaufenen „Party-Szenen“, für gewaltsame Verwerfungen im Inland mit hohem Immigrantenanteil bei den Rechtsbrechern.

Alles in allem: Ein lesenswertes Sachbuch, verfasst in allgemein verständlicher Sprache, also nicht im Juristendeutsch, das sich den grundsätzlichen Problemen der vielschichtigen Problematik widmet, wie unser Rechtsstaat ausgehöhlt wird.

Hans-Jürgen Papier: „Die Warnung. Wie der Rechtsstaat ausgehöhlt wird. Deutschlands höchster Richter a.D. klagt an“, Heyne Verlag, München 2019, gebunden, 270 Seiten, 22 Euro