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21.08.20 / Geldpolitik der EZB / Was ist „verhältnismäßig“?

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 34 vom 21. August 2020

Geldpolitik der EZB
Was ist „verhältnismäßig“?
Wolfgang Müller-Michaelis

Ein alter Volksspruch lautet: Ein Stein zum Hausbau ist verhältnismäßig wenig, ein Stein in der Galle ist verhältnismäßig viel. Bewertungsmaßstäbe dafür, ob etwas zu groß oder zu klein, zu schnell oder zu langsam, zu gut oder zu böse ist, sind in der Politik von ideologischen Grundhaltungen abhängig. Sie können daher keinen Absolutheitsanspruch von richtig oder falsch für die Beurteilung einer politischen Maßnahme erheben. Daher war es auch ergebnisoffen, als das deutsche Bundesverfassungsgericht (BVerfG) im Frühjahr dem Begehr einer Klägergruppe entsprach und die Europäische Zentralbank (EZB) aufforderte, die Verhältnismäßigkeit ihrer unorthodoxen geldpolitischen Maßnahmen nachzuweisen.

Die EZB hatte seit 2016 mit ihrer Nullzinspolitik nicht nur unter Deutschlands Sparern, sondern unter den sparsam wirtschaftenden Nordeuropäern insgesamt für Furore gesorgt. Unter Führung ihres damaligen italienischen Präsidenten Mario Draghi hatte die europäische Währungsbehörde darüber hinaus ein inzwischen billionenschweres (!) Anleihekaufprogramm aufgelegt, um damit den hochverschuldeten südeuropäischen Ländern an den regulären Kapitalmärkten vorbei „unter die Arme zu greifen“. 

In seinem Urteil vom 5. Mai 2020 ging es dem BVerfG nicht um den Verstoß der EZB gegen ihre eigenen Statuten, in diesem rigorosen Ausmaß nicht erlaubte Staatsfinanzierung zu betreiben. Es ging vielmehr um die Nebenfolgen dieser ex-tremen Eingriffe in die europäischen Kapitalmärkte und um die störenden Auswirkungen auf die Einkommenskreisläufe der europäischen Volkswirtschaften. In juristischer Diktion sollten die von der EZB ergriffenen Maßnahmen von lang anhaltender Nullzinspolitik und immer wieder neu aufgelegten Kaufprogrammen auf ihre Verhältnismäßigkeit in Bezug auf die mit ihnen verbundenen Kollateralschäden überprüft werden.

Ein abgekartetes Spiel?

Für kurzzeitige Aufregung hatte es gesorgt, dass das BVerfG in seinem Urteil auch die mangelnde Kontrolle des EuGH in dieser Sache moniert hatte. Am Ende sah es ganz nach einem abgekarteten Spiel zwischen EZB, EU-Kommission und südeuropäischer Ländergruppe aus, als nach Ablauf der vom BVerfG gesetzten Prüffrist per 5. August 2020 verkündet wurde, dass die Verhältnismäßigkeit der von der EZB ergriffenen geldpolitischen Maßnahmen gegeben sei. Dabei hatte die Prüfung allein in der Zusammenstellung von Sitzungsprotokollen des Zentralbankpräsidiums bestanden, wobei jene Mitschriften, die dem Thema Verhältnismäßigkeit gewidmet waren, als geheim eingestuft wurden und damit der Öffentlichkeit vorenthalten blieben. 

Es wirft kein gutes Licht auf die Leitmedien, insbesondere der Finanzpresse, diese Informationsverkürzung bei einer für die europäische Geldpolitik so zentralen Frage kritiklos hingenommen zu haben. Schließlich war die unter Mario Draghi eingeführte Geldpolitik der EZB nicht nur in den für sparsames Haushalten bekannten Nordstaaten der EU umstritten, weil diese gezielt den hochverschuldeten Südländern zugutekam, die eher im Ruf stehen, mit ihren üppigen Sozialsystemen über ihre Verhältnisse zu leben. Auch unter Finanzwissenschaftlern, ehemaligen Bundesbankern und Verfassungsrichtern und selbst in den Fachgremien der EZB bis hin zum Rücktritt einer Direktorin hat sich seit Jahren eine breite Ablehnungsfront gegen diese mit den Gründungsstatuten der Währungsbank schwer vereinbare Politik gebildet. 

Aufgrund der Geheimhaltung jener Protokollteile, die sich mit dem Für und Wider der Verhältnismäßigkeit der getroffenen Maßnahmen befassen, kann über ihren Inhalt nur spekuliert werden. Wenn die Diskussion fachgerecht geführt wurde, was man bei den Gremien einer Währungsbehörde voraussetzen darf, müssten Fragen wie die folgenden erörtert worden sein, deren Brisanz die Einstufung als Verschlusssache erklären würde:

• Ist es verhältnismäßig, zur Erleichterung der Zinslasten hochverschuldeter Länder dem systembildenden Produktionsfaktor der Marktwirtschaft, dem Kapital, seinen Preis – sprich: Zins – zu nehmen und ihn damit seiner systemischen Steuerungsfunktion zu entledigen?

• Ist es nicht einer Prüfung wert, ob die mit der Nullzinspolitik verbundene Kapitalflucht in die Immobilien zu ähnlichen Blasen führt, wie wir sie von der Finanzkrise 2007/2008 kennen; ganz abgesehen von den Mieterhöhungen, die besonders hart einkommensschwache Mieter treffen? 

• Ist es ein hinnehmbarer „Kollateralschaden“, mit der Nullzinspolitik Kahlschlag für ganze Wirtschaftszweige wie Banken-, Sparkassen- und Versicherungswirtschaft zu betreiben? 

• Ist es verhältnismäßig, in einem freien Land dem Bürger im Wege der Nullzinspolitik zu verwehren, eine eigenständige kapitalgedeckte Altersversorgung aufzubauen? 

• Ist es hinnehmbar, dass selbst Rentenkassen, Pflegeversicherung und Krankenkassen für die Einlagerung ihrer gesetzlichen Rücklagen infolge der Nullzinspolitik mit Strafzinsen belastet werden? 

• Ist es akzeptabel, dass eine der größten Errungenschaften der hochentwickelten Zivilgesellschaft – das Stiftungswesen – infolge der Nullzinspolitik in eine existenzielle Gefährdung gerät, womit vielfältige Entlastungen des Staates in den Bereichen Soziales, Gesundheit, Ökologie, Bildung und Kultur hinfällig werden?

Verdächtige Geheimhaltung

Die Geheimhaltung der Erörterung dieser und ähnlicher Aspekte der Nebenfolgen und Kollateralschäden der geldpolitischen Maßnahmen der EZB könnte zugleich als Eingeständnis der befassten Institutionen gewertet werden, dass die Verhältnismäßigkeit tatsächlich nicht gegeben ist, man sich aber aus Gründen übergeordneter „Faktizität“ veranlasst sah, ein Pro-forma-Testat zu erlassen. 

Welche Folgen sich aufgrund dieser verschwiegenen, aber offen zutage tretenden Störungen der Wirtschaftskreisläufe in den Mitgliedsländern der EU in Zukunft ergeben werden, steht auf einem anderen Blatt. 

Prof. Dr. Wolfgang Müller-Michaelis ist Volkswirt, Publizist und Blogger mit den aktuellen Schwerpunkten EZB-Geldpolitik und Folgen des Brexit. Er war unter 

anderem Generalbevollmächtigter der Deutsche BP AG, Direktor der Stiftung Frauenkirche Dresden und Lehrbeauftragter an der Leuphana Universität Lüneburg. 

www.muemis-bloghouse.de