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11.09.20 / Außen- und Sicherheitspolitik / Fragen an den Fall Nawalnyj / Der Giftanschlag auf den Dissidenten belastet die deutsch-russischen Beziehungen schwer. Da hilft ein Blick auf die Interessen der Beteiligten

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 37 vom 11. September 2020

Außen- und Sicherheitspolitik
Fragen an den Fall Nawalnyj
Der Giftanschlag auf den Dissidenten belastet die deutsch-russischen Beziehungen schwer. Da hilft ein Blick auf die Interessen der Beteiligten
René Nehring

Cui bono? – Wem nützt es?, fragte schon Cicero, als er 80 vor Christus den Angeklagten Amerinus gegen den Vorwurf, seinen Vater ermordet zu haben, verteidigte. Auch wenn das Prinzip nicht immer zum Ziel führt, so bringt die Frage, wem eine Sache zum Vorteil gereicht, seit Alters her Licht in viele dunkle Angelegenheiten. 

So auch im Falle des russischen Dissidenten Alexeij Nawalnyj. Seitdem dieser am 20. August Opfer eines Giftanschlags wurde, hagelt es zwischen Berlin und Moskau gegenseitige Schuldzuweisungen. Seit zudem ein Bundeswehr-Labor herausfand, dass Nawalnyj mit einem Kampfstoff aus der sowjetischen „Nowitschok“-Reihe vergiftet worden ist, fordern deutsche Politiker, den kurz vor dem Abschluss stehenden Bau der europäisch-russischen Gaspipeline Nord Stream 2 zu stoppen. 

Gerade dies wirft die Frage auf, ob es tatsächlich die Russen waren, die hinter dem Nawalnyj-Attentat stecken. Erst wenige Tage vor dem Attentat hatten US-Senatoren in einem erpresserischen Schreiben an den Fährhafen Sassnitz versucht, den Fortgang der Arbeiten an der Gaspipeline zu verhindern (siehe PAZ 35/2020). 

Wie realistisch ist es also, dass Wladimir Putin – dem im Westen stets ein kaltes Machtkalkül unterstellt wird – unmittelbar vor der Fertigstellung eines für sein Land wichtigen Infrastrukturprojekts einen Anschlag verüben lässt, der bei den Partnern erwartbar die Forderung aufkommen lässt, eben dieses Projekt zu beenden? Und wie realistisch ist es, dass die Russen den Vergifteten – wenn sie ihn denn töten wollten – erst in Sibirien in ein Krankenhaus bringen und anschließend nach Deutschland ausfliegen lassen, wodurch sich nicht nur die Wahrscheinlichkeit erhöhte, dass dieser überlebt, sondern auch, dass der Einsatz von „Nowitschok“ überhaupt erst nachgewiesen werden konnte? 

Interessant ist auch die Frage, wem Nawalnyj bisher geschadet hat. Richtig ist, dass er mit seinen Videos zahlreiche Mächtige in Russland gegen sich aufgebracht hat. Besonders bekannt wurde 2017 ein 50-minütiges Video, in dem der Dissident das Luxusleben des Ministerpräsidenten Medwedew enthüllte und dabei Luftaufnahmen mehrerer Anwesen des Regierungschefs zeigte. Auf ähnliche Weise entblößte er korrupte Politiker und Unternehmer im ganzen Land. 

Wem nützt und schadet Nawalnyj?

Andererseits hat Nawalnyj offenkundig auch mächtige Förderer im Staatsapparat. Sonst hätte er seine Drohnenaufnahmen nicht drehen können. Zum einen braucht er dezidierte Hinweise, wo die Anzuprangernden ihre Luxusdatschen haben, zum anderen kommt man auch in Russland nicht einfach an sie heran, selbst mit einer Drohne nicht. So ist denn auch aufschlussreich, um wen der Oppositionelle mit seinen Enthüllungen bisher einen Bogen gemacht hat: Präsident Wladimir Putin. 

Auf all das hinzuweisen heißt nicht, die Russen und ihren Präsidenten frei von Verantwortung zu sprechen. Allein die Tatsache, dass ein prominenter Staatsbürger auf russischem Gebiet Opfer eines Anschlags mit einem militärischen Kampfstoff werden konnte, sollte bei jedem Verantwortlichen in Moskau die Alarmglocken schrillen lassen. Hinzu kommt die lange Liste von nicht- oder nur halbherzig aufgeklärten Attentaten gegen missliebige Personen in den letzten Jahren.

Gleichwohl sollten die Verantwortlichen in Deutschland gerade in Krisenzeiten nicht vergessen, dass Russland trotz aller Gegensätze auf vielen Gebieten ein verlässlicher Partner war und ist – nicht nur in der Energiewirtschaft. So spielten die Russen 2015 eine konstruktive Rolle, als sie zusammen mit der EU und den USA den „Atom-Deal“ mit dem Iran aushandelten – der später von der amtierenden US-Regierung gekündigt wurde. 

Die meisten Deutschen – Politiker wie Bürger – neigen dazu, Außenpolitik mit moralischen Maßstäben zu bewerten. Sie kritisieren nicht nur Russland wegen Putin, sondern auch Polen und Ungarn für deren Weigerung, Migranten aufzunehmen, die Briten für den Brexit, China wegen seiner Großmachtansprüche, die Türken wegen Erdogan, die Brasilianer wegen des Umgangs mit dem Regenwald, die USA wegen Donald Trump sowie Italien, Spanien und Griechenland, weil diese ihre Finanzen nicht in den Griff bekommen. 

Doch wenn wir jedes Mal wichtige Projekte abbrechen wollten, weil uns die Politik unserer Partner nicht passt, stünden wir bald allein in der Welt.