29.03.2024

Preußische Allgemeine Zeitung Zeitung für Deutschland · Das Ostpreußenblatt · Pommersche Zeitung

Suchen und finden
11.09.20 / Zweiter Weltkrieg / Als die Evakuierung der deutschen Großstadtkinder begann / Vor 80 Jahren befahl Adolf Hitler die „Erweiterte Kinderlandverschickung“. Geschätzt zwei Millionen Jungen und Mädchen wurden in „luftsichere Gebiete“ gebracht

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 37 vom 11. September 2020

Zweiter Weltkrieg
Als die Evakuierung der deutschen Großstadtkinder begann
Vor 80 Jahren befahl Adolf Hitler die „Erweiterte Kinderlandverschickung“. Geschätzt zwei Millionen Jungen und Mädchen wurden in „luftsichere Gebiete“ gebracht
Klaus J. Groth

Vor 80 Jahren, am 27. September 1940, versandte Reichsleiter Martin Bormann ein vertrauliches Rundschreiben: „Auf Anordnung des Führers werden Kinder aus Gebieten, die immer wieder nächtliche Luftalarme haben, zunächst insbesondere aus Hamburg und Berlin, auf Grund freier Entschließung der Erziehungsberechtigten in die übrigen Gebiete des Reiches verschickt. Mit der Durchführung dieser Maßnahmen hat der Führer Reichsleiter Baldur von Schirach beauftragt … Die NSV übernimmt die Verschickung der noch nicht schulpflichtigen Kinder und der Kinder der ersten vier Schuljahrgänge; die HJ übernimmt die Unterbringung vom 5. Schuljahre an. Die Unterbringungsaktion beginnt am Donnerstag, den 3. Oktober 1940.“ 

Für die Fahrten in „luftsichere Gebiete“ des In- und später auch des besetzten oder befreundeten Auslands wurde der Begriff „Evakuierung“ vermieden. Stattdessen war erst von „Unterbringungsaktion“ und später von „Erweiterter Kinderlandverschickung“ die Rede. Durch das Eigenschaftswort „erweitert“ erfolgte eine Abgrenzung zur Kinderlandverschickung (KLV), in deren Rahmen schon vor dem Krieg Kinder aus sozial schwachen Familien und Laubenkolonien zur Erholung durch die Nationalsozialistische Volkswohlfahrt (NSV) aufs Land geschickt worden waren. 

Es gab rund 5000 Lager

Eine der ersten Schulen, die komplett „verschickt“ wurden, war die Niendorfer Mittelschule in Hamburg. Am 30. Oktober 1940 bestiegen die Schüler beiderlei Geschlechts den Sonderzug nach Babylon im tschechischen Grenzgebiet Böhmerwald. Auf dem Bahnsteig des Bahnhofs Altona standen die Familien dichtgedrängt, um Abschied zu nehmen. Zuerst hieß es, die Kinder würden in vier bis sechs Wochen wieder zu Hause sein. Der Aufenthalt in Babylon, einem Kurort am See, sollte ein Jahr dauern. Die Gäste aus Hamburg wurden in beschlagnahmten Hotels einquartiert. 

Teilweise von den Russen überrannt

Für die robusteren Naturen war es ein großes Abenteuer, andere weinten sich abends vor Heimweh in den Schlaf. Wie groß die Freude sein konnte, endlich heimfahren zu können, zeigen die Erinnerungen einer damaligen Schülerin der Hamburger Schule: „Wieder wurde ein Sonderzeug eingesetzt, der von den Jungen mit Kreide beschriftet wurde: ,KLV hat Ruh‘, ,Hummel Hummel‘, ,Hamburg–Babylon‘ etc., und ich schrieb in meinem Tagebuch: ,Nun fahren wir durch Hamburg. Wir winken tüchtig und alle Leute winken zurück, mit Taschentüchern oder Handtüchern. Es ist 9 Uhr als wir in Hamburg ankommen. Hurra, jetzt sind wir wieder in der Heimat. Jetzt hat sich erfüllt, was wir immer sangen: ,In der Heimat, in der Heimat, da gibt’s ein Wiedersehen.‘“

Für die Verschickung wurden neben Hotels Pensionen, Jugendherbergen und sogar Zellen in Klöstern requiriert. Die meisten Kinder wohnten in Lagern, von denen es rund 5000 gab. Für die Organisation des Unterrichts waren die – oft auf Druck – mitgereisten Lehrer zuständig, für die Betreuung die Hitlerjugend (HJ) und der Bund Deutscher Mädchen (BDM), entsprechend der Parole „Jugend führt Jugend“. Die NSV brachte die jüngeren Kinder bei Pflegefamilien unter. Sie förderte auch die private Einquartierung bei Verwandten, sorgte für den Transport und übernahm die Fahrtkosten. 

Mit den zunehmenden Luftangriffen auf deutsche Städte richtete die Reichsdienststelle KLV einen dringenden Appell an noch zögernde Eltern, ihre Kinder in Sicherheit zu bringen. Zudem verschlechterte sich die Versorgungslage in den Städten, je länger der Krieg dauerte. Besonders die Kleinen litten darunter, dass es zu wenig Milch, Fleisch und Gemüse gab. Um Eltern zu überzeugen, pries die KLV den Erholungswert, die gute Ernährung und frische Landluft sowie den ungestörten Schlaf, der nicht vom Heulen der Luftschutzsirenen unterbrochen werde. 

Die Reichsdienststelle bestimmte den Tagesablauf: um 6.30 Uhr Wecken, Waschen, Bettenlüften, Stubendienst und Gesundheitsappell, um 7.30 Uhr Begrüßungsspruch und Frühstück. Der Unterricht dauerte vier Stunden. Nachmittags wurden die Jungen militärisch gedrillt, die Mädchen lernten kochen und nähen, aber auch Sport und Spiel standen auf dem Programm. Besuche der Eltern waren unerwünscht, aber geduldet. Briefe nach Hause wurden oft kontrolliert. 

 Auch in England wurden Kinder vor den Bombardements der deutschen Flugzeuge aufs Land gebracht. Nach dem ersten schweren Angriff auf London am 7. September 1940 verließen rund 650.000 Jungen und Mädchen die Stadt. Sie konnten schon bald zu ihren Familien zurückkehren. Im Mai 1941 endete die Luftschlacht um England. „The Blitz“ hatte den Widerstand der Bevölkerung nicht geschwächt, sondern noch verstärkt. Im Winter 1942/43 brachte dann die Schlacht um Stalingrad die Kriegswende. Die meisten Deutschen glaubten den Versprechungen ihrer Führung nicht mehr, dass der Endsieg bevorstehe. Die Auflösung der KLV-Lager begann. In Böhmen gelang die Auflösung von KLV-Lagern nicht mehr rechtzeitig vor dem Einmarsch der russischen Truppen. Viele der Kinder blieben verschollen.