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18.09.20 / Weißrussland vor der Zerreißprobe Zwischen Wladimir Putins System einer „gelenkten Demokratie“ und dem Wunsch nach Rechtsstaatlichkeit / Minsk auf den Spuren von Kiew 2014 / Nach den gefälschten Präsidentschaftswahlen vom 9. August kommt das Land nicht mehr zur Ruhe

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 38 vom 18. September 2020

Weißrussland vor der Zerreißprobe Zwischen Wladimir Putins System einer „gelenkten Demokratie“ und dem Wunsch nach Rechtsstaatlichkeit
Minsk auf den Spuren von Kiew 2014
Nach den gefälschten Präsidentschaftswahlen vom 9. August kommt das Land nicht mehr zur Ruhe
Bodo Bost

Zum jetzigen Zeitpunkt kam der Volksaufstand überraschend, denn es war nicht die erste gefälschte Wahl für Weißrusslands Präsidenten Alexander Lukaschenko. Vor den Präsidentschaftswahlen vom 4. bis 9. August hatte nichts auf eine solche Entwicklung hingedeutet. Alles ging mit Tricksereien, Verhaftungen und Einschüchterungen seinen gewohnten Gang. Alle potenziellen starken Gegenkandidaten saßen im Gefängnis. 

Auf der Wahlliste standen deren Partnerinnen, die aber niemand kannte und die keine Erfahrung in der Politik hatten. Das Störfeuer für die Wahl schien diesmal sogar eher von Russland, dem großen Bruder, zu kommen, als kurz vor der Wahl Dutzende von Mitarbeitern des privaten russischen Sicherheits- und Militärunternehmens Gruppe Wagner wegen Wahleinmischung in Minsk verhaftet wurden. 

Demos fehlen die führende Köpfe 

Als die Wahlkommission am Abend des Wahltags 80 Prozent für Lukaschenko und nur zehn Prozent für seine Herausforderin Swetlana Tichanowskaja bekanntgab, brach der Volkszorn aus: Der belarussische Euromajdan begann mit Protesten gegen die Wahlfälschung. Bereits zwei Tage später flüchtete Tichanowskaja ins benachbarte Litauen. 

Diese erzwungene Flucht, die äußerste Gewalt, mit der die Ordnungshüter gegen die Demonstranten vorgingen, und Tausende Verhaftungen fachten die vor allem von Frauen getragenen Proteste weiter an. Weite gesellschaftliche Kreise bis hinein in die Arbeiterschaft solidarisierten sich mit den Protesten. Regionale Polizei- und Militäreinheiten sowie hohe Staatsbeamte verweigerten die Gefolgschaft. Lukaschenko in seiner Not ließ die russischen Söldner frei, machte Ablenkungsangebote an die Opposition und rief nach Hilfe des benachbarten Russland. 

Von diesem kommen bislang wechselnde Signale. Einerseits signalisiert er militärische Unterstützung für Lukaschenko, andererseits betont er das Recht auf Meinungsfreiheit. Putin geht es um seinen eigenen Machterhalt. In Russland gärt es selbst in einer Provinz, und es finden Gouverneurswahlen statt. Seine Unterstützung, ganz gleich welcher Art, wird sich Putin von Lukaschenko teuer bezahlen lassen. 

Alle führenden Köpfe der Proteste sind entweder im Ausland oder sitzen im Gefängnis. Dank des Telegram-Kanals „Nexta Live“ mit mehr als zwei Millionen Abonnenten laufen die Demonstrationen auch ohne führende Köpfe weiter. Um die vielfältigen oppositionellen Kräfte zusammenzuführen, hatte Maria Kolesnikowa nach der Wahl eine Plattform mit dem Namen „Wmestje“ (Gemeinsam) gegründet. Die 38-jährige Bekannte des verhafteten Präsidentschaftskandidaten und Bankenchefs Viktor Babariko sitzt jetzt auch im Gefängnis (siehe Porträt Seite 8). Bereits drei Monate vor der Wahl war der „Koordinierungsrat der Zivilgesellschaft für einen Machtwechsel in Belarus“ gegründet worden. In diesem Gremium sind eher ältere Oppositionelle organisiert, darunter Ex-Botschafter Pawel Latuschko sowie und die 72-jährige Literaturnobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch, die Letzte aus der Führungsriege der Opposition, die noch auf freiem Fuß ist. 

 Solange die Planwirtschaft in Weißrussland weiter funktioniert und Lukaschenko seine Getreuen und Sicherheitskräfte weiter alimentieren kann, wird er sich nicht von der Macht vertreiben lassen. Das zeigt auch sein martialischer Auftritt mit Kalaschnikow. Die meisten Weißrussen wollen zwar mehr Freiheit, aber nicht unbedingt nach Westen, wie es ein Teil der Ukraine anstrebt.





Kurzporträts

Die weißrussische Literaturnobelpreisträgerin des Jahres 2015 Swetlana Alexijewitsch kam 1948 im galizischen Stanislau in der Ukrainischen SSR zur Welt

Videoblogger Sergej 

Tichanowskij wollte Lukaschenko herausfordern, bis er inhaftiert wurde. An seiner statt kandidierte seine Frau Swetlana Tichanowskaja

Alexander Lukaschenko lebt noch in der Sowjetzeit. Durch eine Wahl an die Macht gekommen, will er sie seit 26 Jahren nicht mehr hergeben