20.04.2024

Preußische Allgemeine Zeitung Zeitung für Deutschland · Das Ostpreußenblatt · Pommersche Zeitung

Suchen und finden
18.09.20 / Rom / Die „durch die Meinung der Nation akklamierte Hauptstadt“ / Vor 150 Jahren fiel der Kirchenstaat. Die Einheit des Königreichs Italien galt damit als vollendet

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 38 vom 18. September 2020

Rom
Die „durch die Meinung der Nation akklamierte Hauptstadt“
Vor 150 Jahren fiel der Kirchenstaat. Die Einheit des Königreichs Italien galt damit als vollendet
Erik Lommatzsch

Als es den königlich-italienischen Truppen am 20. September 1870 gegen 9 Uhr morgens gelungen war, nördlich der Porta Pia eine Bresche in die Stadtmauer zu schlagen, war der knapp vier Stunden zuvor begonnene Kampf um Rom und damit den Kirchenstaat entschieden. Die päpstliche Seite kapitulierte, auf der Kuppel des Petersdoms wurde die weiße Fahne aufgezogen. Von Anfang an hatte festgestanden, dass Papst Pius IX. aufgrund der Kräfteverhältnisse lediglich pro forma eine Verteidigung möglich sein würde. Das Forcieren einer gewaltsamen Auseinandersetzung seitens des Papstes wäre ohnehin nur schwer vorstellbar gewesen. Die andere Seite hingegen war sich bewusst, dass man Landsleuten gegenüberstand, die man für den italienischen Nationalstaat zu gewinnen hoffte. Zudem wurde Pius IX. von europäischen Freiwilligen unterstützt, mit deren Nationen das junge Königreich Konflikte vermeiden wollte. Insofern gab es von Anfang an einen Moment der Zurückhaltung. Dennoch waren schließlich auf päpstlicher Seite 19 und auf der des italienischen Königs 49 Gefallene zu beklagen.

68 Gefallene auf beiden Seiten

Die Auseinandersetzungen dieses 20. September waren zwar militärisch unbedeutend, hatten aber große, vor allem symbolische Auswirkungen. Der Papst verlor seinen Staat, die italienische Hauptstadt wurde nach Rom verlegt, die Epoche des Risorgimento (Wiedergeburt, Wiedererstehung, Wiederaufblühen), das Streben nach der Einheit der italienischen Nation, war zum Höhepunkt gelangt, auch wenn noch weitere Gebiete als zu Italien gehörig beansprucht wurden. In seinem 2001 erschienenen Buch „Rom oder Tod“ spricht der Historiker Gustav Seibt davon, dass „der römische Feldzug von 1870 eines der großen Ereignisse der Geschichte Europas“ gewesen sei.

Bestrebungen, das über Jahrhunderte zersplitterte, vielfach unter der Herrschaft fremder europäischer Dynastien wie der Habsburger oder der Bourbonen stehende Italien als Nation zusammenzuführen, waren bereits Ende des 18. Jahrhunderts erkennbar. So einig man sich in der italienischen Nationalbewegung im Ziel war, so verschieden waren die Ansätze, die nach dem Ende der Ära Napoleons I. und der europäischen Restauration auf dem Wiener Kongress 1814/15 verfolgt wurden. Nicht die – vor allem mit den Namen Giuseppe Mazzini und Guiseppe Garibaldi verbundenen – revolutionären Initiativen führten letztendlich zum Erfolg, sondern die Einigungsbemühungen „von oben“, unter der Führung des Königreichs Sardinien-Piemont und maßgeblich gestaltet durch dessen Ministerpräsidenten Camillo Benso Graf von Cavour. Staatsform war die konstitutionelle Monarchie. König Viktor Emanuel II. nahm im März 1861 den Titel eines Königs von Italien an. 

Nachdem Österreich als Folge des verlorenen zweiten deutschen Einigungs- und dritten italienischen Unabhängigkeitskrieges 1866 Venetien an Italien hatte abgeben müssen, gehörte auf der Apenninen-Halbinsel einzig der Kirchenstaat nicht zum Königreich. Dieser umfasste noch Latium mit der Stadt Rom, andere Bereiche waren schon 1860 an den Nationalstaat gefallen. Napoleon III. hatte einerseits aus eigenem Machtkalkül viel zur italienischen Einheit beigetragen. Andererseits gerierte sich der Kaiser der Franzosen bezüglich des Papstes als Schutzmacht.

Das Risorgimento hatte Rom von Anfang an im Blick. So war 1849 unter Mazzini und anderen für fünf Monate eine „Römische Republik“ etabliert worden, bevor mit französischer und spanischer Hilfe dem Anspruch des geflohenen Papstes wieder Geltung verschafft wurde. Garibaldi versuchte 1862 und 1867 jeweils vergeblich, Rom einzunehmen. Das seinerzeit in Turin befindliche Parlament des Königreichs hatte bereits frühzeitig entschieden, „dass Rom, die durch die Meinung der Nation akklamierte Hauptstadt, Italien angeschlossen werde“.

Gelegenheit, dies zu realisieren, ergab sich im Jahr 1870. Der am 19. Juli begonnene Deutsch-Französische Krieg zwang Frankreich, seine Schutztruppen für den Kirchenstaat abzuziehen. Dennoch zögerte die italienische Regierung zunächst. Immerhin hätte sich auch die Möglichkeit geboten, an der Seite Frankreichs in den Krieg einzutreten und dafür die noch nicht zum Königreich gehörenden Gebiete als Preis zu verlangen. Entschieden wurde anders. Nachdem der Papst eine friedliche Einigung abgelehnt hatte, überschritten italienische Truppen am 12. September die Grenze. Der Gedanke, bei der Eroberung Roms zugegen zu sein, führte bei den Beteiligten vielfach zu patriotischer Begeisterung. So heißt es etwa bei dem Parlamentarier Guiseppe Guerzoni, die „Beine tanzen, die Reihen formieren sich von Zauberhand, die Waffen werden blitzartig ergriffen“. Der Reporter Ugo Pesci schrieb, dass ihm „wenigstens einmal im Leben eine tiefe Genugtuung zuteil geworden“ sei. Mit Seibt urteilt ein Historiker unserer Tage: „Wenn man erfahren will, was der Nationalismus als positive Gefühlsmacht in aller Unschuld einmal gewesen ist … dann findet man die lebendigsten Zeugnisse in den Berichten und Erinnerungen der Journalisten und Augenzeugen des italienischen 1870.“ 

Große symbolische Bedeutung

Mit Trikoloren, den im Kirchenstaat eigentlich verbotenen grün-weiß-roten italienischen Nationalflaggen, wurden die Truppen von großen Teilen der Bevölkerung empfangen. Der Gesandte des Norddeutschen Bundes beim Heiligen Stuhl, Harry Graf Arnim, notierte nach dem Ende der Kämpfe des 20. September: „Die Zahl derjenigen, welche den Fall der weltlichen Macht des Papstes bedauern, ist verschwindend klein.“ Bei einem Plebiszit am 2. Oktober sprachen sich fast 99 Prozent der Befragten für einen Anschluss des Kirchenstaates an das Königreich Italien aus.

Dem Papst, der seine geistliche Autorität noch im Juli 1870 durch das umstrittene Unfehlbarkeitsdogma zu stärken versucht hatte, verblieben durch das sogenannte Garantiegesetz zwar der Vatikan, der Lateran und Castel Gandolfo. Eine eigene weltliche Herrschaft war jedoch nicht mehr existent. Pius IX. weigerte sich, den Zustand anzuerkennen. Die Eroberer Roms verfielen dem Kirchenbann. Per Bulle verbot der Pontifex Maximus 1874 eine Beteiligung an Wahlen in Italien. Er selbst betrachtete sich als „Gefangener im Vatikan“. Die bei Weitem nicht nur italienische Katholiken bewegende, nun entstandene Römische Frage betreffend die völkerrechtliche Stellung des Papstes blieb für fast 60 Jahre offen. Erst mit den 1929 in der Ära des Faschismus abgeschlossenen Lateranverträgen wurde der Vatikan wieder souverän.