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25.09.20 / Schönes Hinterpommern / Kirschs Bürgergarten in Rogzow / Das Ausflugsziel war weit über die Kreisgrenzen hinaus bekannt und beliebt

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 39 vom 25. September 2020

Schönes Hinterpommern
Kirschs Bürgergarten in Rogzow
Das Ausflugsziel war weit über die Kreisgrenzen hinaus bekannt und beliebt
Helmut Kirsch

Bei den Köslinern aus der Stadt und dem Landkreis war in Rogzow, am östlichen Stadtrand von Köslin einst „Kirschs Bürgergarten“ bzw. in Kurzform einfach nur „Kirsch“, ein beliebtes Ausflugslokal.

Helmut Kirsch, der heute in Heiligenhafen lebende Sohn bzw. Enkelsohn der Gastwirtsfamilie, erinnert sich hier aus Anlass des 75. Jahrestages der Flucht aus seiner Heimat an einige markante Punkte aus der Geschichte der Familie Kirsch und deren Gaststätte: Den großen Wurf machte mein Großvater Hermann Kirsch im Jahre 1890 mit der Erfindung eines neuen Zwieback-Röstverfahrens. Hierdurch konnte die Qualität des industriell hergestellten Zwiebacks erheblich verbessert werden. Nun eröffneten sich neue Möglichkeiten für den Kösliner Bäckermeister, der in der Bergstraße eine gut gehende Bäckerei besaß.

Großvater erfand spezielles Zwieback-Röstverfahren

Zur selben Zeit lebte nämlich in Celle der ebenfalls weitblickende Erfinder und Industrielle Harry Trüller, der in seinen Werken Zwieback und Kekse herstellte. Seinen Slogan „Iss immer düller Zwieback von Trüller“ kannte damals jedes Kind. Als Trüller von dem neuen Verfahren erfuhr, holte er den pommerschen Bäckermeister Kirsch aus dem fernen Köslin zu sich und kaufte ihm seine Erfindung für 60.000 Mark ab, was nach Angaben des Statistischen Bundesamtes nach heutiger Kaufkraft umgerechnet ungefähr 384.000 Euro wären. Nach drei Monaten konnte der unter der Anleitung von Hermann Kirsch gebaute Spezialofen in Celle in Betrieb genommen werden.

Mein Großvater Hermann Kirsch verkaufte daraufhin die Bäckerei in Köslin, um im Strandbad Großmöllen an der Ostsee ein Restaurant zu übernehmen, das unter dem Namen „Redoute“ bekannt war. Hier erfüllten sich seine finanziellen Erwartungen allerdings nicht.

Als im Jahr 1910 in Rogzow das Ausflugslokal „Bürgergarten“ zum Kauf angeboten wurde, sah Hermann Kirsch eine erneute Chance, sein Geld gewinnbringend anzulegen. Der „Bürgergarten“, an dessen Stelle einst ein Kloster stand, befand sich auf einem großen, von drei Straßen umgebenen Grundstück, zu dem noch Ländereien außerhalb Rogzows gehörten. 

Um den Ansprüchen der damaligen Zeit zu genügen, wurde das Anwesen verschönert und ein Saal für Veranstaltungen gebaut. Am Rande der Terrasse mit 500 Außensitzplätzen befand sich eine Tanzfläche mit Musikpavillon, der durch eine Veranda mit dem Saal verbunden war. 

Der Bäckermeister Hermann Kirsch fühlte sich in seiner neuen Rolle als Gastwirt wohl. Eigenhändig pflanzte er eine Lindenallee, die von der Straßenbahnhaltestelle direkt bis an das Lokal führte. Diese Allee steht noch heute in voller Pracht und ist schon von weitem zu sehen.

Auch ein „Heiratsmarkt“

Schon bald war für viele Kösliner Familien „Kirschs Bürgergarten“ ein beliebtes Ausflugsziel, und so manche Verbindung, die mit dem Bund fürs Leben schloss, hatte sich dort angebahnt.

Inzwischen hatte mein Vater Wilhelm Kirsch den Bürgergarten übernommen. Mit seiner Frau Meta, geborene Kaß, deren Eltern in Rogzow eine Fleischerei besaßen, hatte er eine Ehefrau, die neben der Erziehung der vier Kinder den sonntäglichen Stoßgeschäften gewachsen war. Meine Mutter war die Seele des Geschäfts.

Als mein Vater zum zweiten Mal in einem Jahrhundert die Uniform anziehen musste, war meine Mutter alleine für das große Lokal verantwortlich. Noch spielte an Sonntagen im Musikpavillon eine 30 Mann starke Militärkapelle zum Tanz auf, aber die Geschäfte gingen schlechter und die Menschen hatten andere Sorgen. So war es eine Erlösung, als eines Tages die Wehrmacht alle Geschäftsräume konfiszierte, um dort eine Marine-Standortverwaltung einzurichten. Die monatlich gezahlte Miete und der Sold meines Vaters waren nun eine solide Lebensgrundlage für unsere Familie. Es war ein schwerer Schlag, als plötzlich die Nachricht kam, dass mein ältester Bruder Siegfried in Russland gefallen war. Siegfried war erst 19 Jahre alt. Ich, erst 1942 geboren, bekam von all‘ dem nichts mit.

Am Freitag, den 2. März 1945 begann dann auch für uns der Exodus. Am Abend zuvor erreichten motorisierte sowjetische Verbände gegen 20 Uhr den Stadtrand von Köslin. Der Versuch unserer Familie, gemeinsam mit einem der überfüllten Züge Köslin zu verlassen, war vergeblich. Da wurde uns von den noch im Haus anwesenden Marineoffizieren angeboten, sofort auf einen der beiden bereitstehenden Lastkraftwagen zu steigen, um uns nach Swinemünde mitzunehmen. Auf überfüllten Straßen, vorbei an endlosen Trecks aus Ostpreußen und dem östlichen Pommern, kam unser Lkw heil in der Hafenstadt an. Der andere Lastwagen wurde von Tieffliegern beschossen, wobei zwei unserer Nachbarn getötet wurden.

Am folgenden Tag haben wir Swinemünde verlassen, weil durch den Abwurf von Flugblättern die Bombardierung der Stadt angekündigt wurde. Tatsächlich erfolgte am 12. März 1945 der schwere Angriff alliierter Kampfbomber auf Swinemünde, bei dem mehr als 20.000 Menschen – die meisten Flüchtlinge – den Tod fanden. Und wieder konnte meine Familie – wie zuvor schon aus Köslin – noch rechtzeitig einem Inferno entfliehen, denn zu dem Zeitpunkt befanden wir uns bereits auf dem Seeweg nach Kiel, wo wir hofften, meinen Vater an seinem Marinestandort wiederzufinden, was auch geschah.

Wiedersehen mit der Heimat

Es sollte 35 Jahre dauern, bis ich nach unserer Flucht als Zweijähriger mein Elternhaus wiedersehen sollte. Mir wurde große Herzlichkeit entgegengebracht. Was war geblieben? Die äußere Form des Gebäudes war erhalten, doch – wie überall durch die Zeit der Mangelwirtschaft – in einem desolaten Zustand. Aus dem Tanzsaal wurde ein Kino und die anderen Räumlichkeiten wurden privat genutzt. Die von meinem Großvater gepflanzte Lindenallee gab es noch, doch nicht einmal mehr zu erahnen war der große Kaffeegarten mit Konzertpavillon.

Seitdem war ich viele Male in Pommern und auch im Bürgergarten. Statt des Kinos ist dort zwischenzeitlich unter anderem ein Computer-Schulungszentrum und eine Leihbücherei eingerichtet worden, in der ich vor einigen Jahren Bilder unseres Bürgergartens ausstellen durfte, die bei den Besuchern viel Beachtung fanden. Unsere Familie setzt die gastronomische Tradition in der vierten Generation fort, mein Sohn Alexander führt jetzt das „Eiscafe Kirsch“ in Schönberg (Holstein) bei Kiel.