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23.10.20 / Hygieneregeln / „Ein unabdingaberer Bestandteil sozialistischer Lebensweise“ / In der DDR sicherten die Staatsorgane nicht nur „die grundlegenden Voraussetzungen zur Einhaltung der hygienischen Verhaltensnormative für alle Bürger“

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 43 vom 23. Oktober 2020

Hygieneregeln
„Ein unabdingaberer Bestandteil sozialistischer Lebensweise“
In der DDR sicherten die Staatsorgane nicht nur „die grundlegenden Voraussetzungen zur Einhaltung der hygienischen Verhaltensnormative für alle Bürger“
Heidrun Budde

Die SED-Funktionäre wussten, dass Teile der Bevölkerung die aufgezwungene „Diktatur des Proletariats“ ablehnten. Der Machterhalt konnte nur durch die Abschaffung der Individualität und durch eine lückenlose Kontrolle erfolgen. Im Ergebnis entstand ein Heer von Mitläufern, das dieses politische System wesentlich stützte. 

In der Rostocker Stadtordnung vom 23. Dezember 1977 findet man Worte wie „gegenseitige Erziehung“, „bewußte Disziplin“, „erzieherische Aussprache“ und bei Missachtung der Vorgaben die Einleitung von „entsprechenden erzieherischen Maßnahmen durch Bürger, Kollektive und gesellschaftliche Gremien“. Die Arbeitsplätze sowie Wohn- und Erholungsgebiete waren so zu gestalten, dass „sich in ihnen das neue Lebensgefühl sozialistischer Menschen“ äußerte. Selbst der Umfang der persönlichen Hygiene war Regelungsgegenstand (Paragraf 47): 

„(1) Die Einhaltung der persönlichen Hygiene und Sauberkeit ist unabdingbarer Bestandteil sozialistischer Lebensweise. Der Rat der Stadt sichert die grundlegenden Voraussetzungen zur Einhaltung der hygienischen Verhaltensnormative für alle Bürger.

 (2) Die Vernachlässigung der Sauberhaltung von Körper, Kleidung und Wohnung stellt einen Gefahrenherd für die Allgemeinheit dar und ist durch erzieherische Einflussnahme der Betriebe, gesellschaftlichen Kräfte und Bürger rechtzeitig zu unterbinden. Bleibt die erzieherische Einflussnahme ohne Erfolg, sind rechtliche Mittel anzuwenden.“

Abschaffung der Individualität

Ein Bürger, der schmutzige Kleidung trug oder unangenehm roch, wurde nach dem Willen der Funktionäre zum Objekt der kollektiven Erziehung, denn im Paragrafen 70 der Stadtordnung wurde diese Legitimation erteilt: „Jeder Bürger hat das Recht, Personen – einschließlich der gesetzlichen Vertreter von Betrieben und Einrichtungen –, die den Grundsätzen dieser Ordnung zuwiderhandeln, zu ermahnen und zur Unterlassung aufzufordern bzw. die Hilfe der dafür zuständigen staatlichen Organe für die Durchsetzung berechtigter Forderungen in Anspruch zu nehmen.“

Gegenseitiges Aufpassen, Ermahnen, Erziehen und Einmischen in die private Intimsphäre wurden ausdrücklich verlangt. Dass diese Verfahrensweise den Artikel 30 der DDR-Verfassung konterkarierte, nachdem die Persönlichkeit und Freiheit der Bürger „unantastbar“ waren, spielte dabei gar keine Rolle. Der Zweck heiligte die Mittel. 

Spießbürgerliche Aufpasser, auch ohne Zugehörigkeit zur Staatssicherheit, bekamen ein nahezu unbegrenztes Betätigungsfeld, und sie waren durchaus eine Macht. Ihre „Erkenntnisse“ hinter vorgehaltener Hand wurden immer dann zur Entscheidungsgrundlage, wenn ein Bürger Wünsche äußerte, die dem Regime nicht passten, wie bei Eheschließungswünschen mit Bundesbürgern, Reiseanträgen ins „kapitalistische Ausland“ oder bei der Vergabe von Berufserlaubnissen für Seeleute. 

1986 wollte beispielsweise Heike M. als Touristin nach Algerien reisen. Ihr Antrag scheiterte aus diesem Grund: „Wurde im November 1985 von der Funktion des FDJ-Sekretärs entbunden. Keine positive politische Meinung zur Politik der DDR. Oft Männerbekanntschaften und häufiger Alkoholgenuß.“ Herr B. wollte gerne Frankreich besuchen, und auch er musste zu Hause bleiben, weil diese Informationen aus unbekannter Quelle kamen: „Als Begründung wird die zerrüttete Ehe des B., die nur noch nach außen hin besteht, angeführt. Durch die gestörten Familienverhältnisse kann ein ungesetzliches Verlassen nicht ausgeschlossen werden.“

Lückenlose Kontrolle

Hervorzuheben ist, dass die Antragsteller selbst niemals eine Begründung für die Ablehnung bekamen und es auch keinen Rechtsweg gab. Die Bürger wussten nur, dass sie von nebulösen Entscheidungen abhängig waren, gegen die sie sich nicht wehren konnten. Diese Verunsicherung und das Gefühl des Ausgeliefertseins führten oft zu vorauseilendem Gehorsam. So entstand ein Heer von Mitläufern, das die politische Bevormundung akzeptierte und den inszenierten Selbstbetrug unterstützte.

Beispielsweise fand 1980 eine „propagandistische Großveranstaltung mit internationaler Beteiligung zu Fragen des Kampfes gegen den Antikommunismus und Antisowjetismus“ in Rostock statt. Es wurden rund 700 Teilnehmer erwartet. Am 9. April 1980 genehmigte die SED-Bezirksleitung eine „Konzeption“ zur Durchführung dieser Veranstaltung und gab dieses Ziel vor: „Wir stellen uns die Aufgabe, parteiliche Haltungen zum sozialistischen Patriotismus und proletarischen Internationalismus zu vertiefen und das Feindbild, insbesondere über den BRD-Imperialismus, stärker auszuprägen und politische Standhaftigkeit im Sinne der 11. Tagung des ZK der SED und der Rede des Generalsekretärs des ZK der SED vom 25.1.1980 zu fördern.“

Die Konzeption sah mehrere Redner vor. Doch jeder, der das Wort ergreifen durfte, bekam von der SED strikte Anweisungen, was er zu sagen hatte, wie beispielsweise: Ein Vertreter der Seeverkehrs- und Hafenwirtschaft: antikommunistische und antisowjetische Störmanöver gegen die Seeverkehrs- und Hafenwirtschaft. Ein Vertreter der Volksmarine: die permanente Bedrohung des Sozialismus durch die NATO. Ein Vertreter des Volkstheaters: die Verkörperung der besten Traditionen des kulturellen Erbes durch die DDR und die Auseinandersetzung mit dem Imperialismus im kulturellen Bereich. Ein Vertreter des Sports: die Verleumdung der sozialistischen Sportbewegung durch den Imperialismus unter besonderer Berücksichtigung von dessen Störmanövern gegen die Olympischen Spiele 1980 in Moskau. Ein Jugendlicher: die Aneignung eines festen Klassenstandpunktes und sozialistischer internationalistischer Verhaltensweisen im Sinne des KPD-Vorsitzenden Ernst Thälmann.

Die SED-Funktionäre zwangen den Menschen ihr „Feindbild“ vom „BRD-Imperialismus“ auf und blendeten dabei das eigene Versagen völlig aus. Missstände wurden in Erfolge uminterpretiert und selbstbestimmtes Denken und Sagen wurden im DDR-Sozialismus unterdrückt. Die politische Bevormundung bestimmte den Alltag. Als die öffentlichen Lügen für die Menschen immer unerträglicher wurden, gingen sie 1989 zu Tausenden auf die Straße. Der SED-Staat brach zusammen und die Bürger hofften mit der Vereinigung auf ein Leben ohne Erziehung, Ermahnung, Zurechtweisung und Einmischung in ihre Privatsphäre. Vor allem wollten sie endlich ihre freie Meinung äußern dürfen, ohne Sorge vor Nachteilen und ohne Denk- und Sprechverbote.