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23.10.20 / Erinnerung / Überlebt wie durch ein Wunder / Karl Bäumchen erzählt die Geschichte Heinerles, eines Jungen vom Haff, der als Kind die Flucht erlebte

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 43 vom 23. Oktober 2020

Erinnerung
Überlebt wie durch ein Wunder
Karl Bäumchen erzählt die Geschichte Heinerles, eines Jungen vom Haff, der als Kind die Flucht erlebte
Dagmar Jestrzemski

Einfühlsam, heiter bis melancholisch, dramatisch zugespitzt und gleichzeitig informativ schildert Karl Bäumchen in seinem Buch „Heinerle – der Mann vom Haff“ die Geschichte von Heinz Emil Radberger (Name geändert), genannt Heinerle, aus Postnicken [Salownoje] am Südufer des Kurischen Haffs im ostpreußischen Samland. 

Der Autor und sein Protagonist sind Einwohner der Gemeinde Schönenberg-Kübelberg in der Westpfalz. Bäumchen, ein pensionierter Mitarbeiter der Oberfinanzdirektion Koblenz, hatte 2018 den damals 84-jährigen, rüstigen Rentner auf einer Reise nach Königsberg, zum Samland, zur Bernsteinküste und in sein Heimatdorf Postnicken begleitet. Für Heiner war es schon die 13. Reise nach Ostpreußen. 

Anrührend wird in dem kleinen Band Heinz’ Schicksal stellvertretend für das unmenschliche Leid so vieler Flüchtlinge erzählt. Heinerle, wie ihn seine Freunde nennen, war zehn Jahre alt, als er im Januar 1945 Ostpreußen verlassen musste. Auf der Flucht mit seiner Familie wurde er mit dem Elend, der Not und dem Tod von zahllosen Menschen konfrontiert, die in der Eiseskälte mit ihren Gespannen in Richtung der Seebäder Cranz und Rauschen an der Bernsteinküste voran strebten. Ihr Ziel war der Hafen Pillau, um von dort mit einem Schiff über die Ostsee nach Gdingen (Gotenhafen) und weiter nach Swinemünde zu gelangen. Auf derselben Route bahnten sich auch Wehrmachtsfahrzeuge rücksichtslos ihren Weg. 

Ende Januar 1945 wurde das Kind in Rauschen bei einem Angriff russischer Jagdflieger auf die hilflosen Flüchtlinge verletzt. Ein Trupp SS-Leute nahm Heinz und eine seiner Schwestern entgegen der Vorschrift auf einem Torpedoboot mit, das Militärangehörige und schwerverletztes militärisches Personal über Pillau nach Gdingen (Gotenhafen) transportierte. Wie durch ein Wunder überlebte Heinz mit seiner schweren Rückenverletzung den langen Transport „ins Reich“. Am Zielbahnhof Hamburg-St. Pauli erklärte ihm ein Stabsarzt: „Junger Mann, du hast mehr als nur einen Schutzengel gehabt!“

1934 wurde Heinerle in Postnicken als jüngstes von acht Kindern einer Landarbeiterfamilie geboren. Sein Vater arbeitete als Gespannführer auf dem Gutshof eines Bauern, auf dem auch seine Mutter durch ihre Arbeit etwas für die Familie hinzuverdiente. Die Einwohnerschaft des Dörfchens bestand 1939 aus den Familien der vier Großbauern und etwa 900 Angehörigen der Landarbeiterfamilien. Im Dezember 1944 versammelten sich die zunehmend mutlosen Menschen bei den Großbauern, um die neuesten Nachrichten zur Kriegslage zu erfahren. Königsberg brannte. Am Himmel sah man den gelben und roten Lichterschein der Flammen. Insgeheim trafen Heinerles Eltern Anfang Januar 1945 Vorbereitungen für die Flucht. Am 21. Januar verließen etwa 400 Dorfbewohner mit ihren voll beladenen Wagen und vorgespannten Pferden Postnicken geschlossen im Treck. Das Mitleid mit den zurückgelassenen Tieren, Kühen, Pferden und Hunden, zerriss ihnen das Herz. Die Übrigen blieben, weil sie hierher gehörten, zu diesen Ländereien, auf denen sie ihr Leben lang hart gearbeitet hatten. So schlimm würde es hoffentlich nicht werden, wenn die Russen kommen, dachten sie. Es kam noch viel schlimmer. In seiner 1957 gedruckten Ortschronik berichtete Hauptlehrer Romeike: Von den 430 im Dorf verbliebenen Menschen starben in der Hungerzeit 1946/47 227. 81 Personen wurden von den Russen erschossen, erschlagen oder verschleppt. 

Der junge Mann, der nach etlichen Zwischenstationen völlig mittellos als Flüchtling in die Pfalz gekommen war, schaffte es durch seinen Fleiß, recht schnell Fuß zu fassen. Er gründete eine Familie und erwirtschaftete für sie durch seine Arbeit als Stahlkocher im Saarland und an den Wochenenden in einer Baukolonne das Geld für ein eigenes Haus. Heinz hegt keine bitteren Gefühle, obwohl er innerlich tief mit seiner Heimat verbunden blieb: „Ich will durch meine Geschichte all den sinnlosen Opfern von Krieg, Gewalt, Flucht und Vertreibung meine Stimme leihen. Vergesst uns nicht, vergesst unser Ostpreußen nicht!“ 

Karl Bäumchen: „Heinerle – der Mann vom Haff“, Verrai-Verlag, Stuttgart 2019, broschiert, 98 Seiten, 10,90 Euro