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23.10.20 / zeitzeugnis / Kriegserlebnisse eines Jugendlichen / Erhard Ernst schildert in einem Roman das „Leben in zwei Welten“ eines Flüchtlings

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 43 vom 23. Oktober 2020

zeitzeugnis
Kriegserlebnisse eines Jugendlichen
Erhard Ernst schildert in einem Roman das „Leben in zwei Welten“ eines Flüchtlings
Dagmar Jestzremski

Als einer der ältesten noch lebenden Zeitzeugen hat Erhard Ernst, der im ostpreußischen Mohrungen [Morag] aufwuchs, nach über 70 Jahren einen spannenden und berührenden autobiografischen Roman mit dem Titel „Strandgut des Krieges. Ein Leben in zwei Welten“ geschrieben. 

„Strandgut des Krieges“ war in den Nachkriegsjahren die Bezeichnung für alle infolge des Krieges heimatlos gewordenen Menschen. Lebhaft bewegt und reflektiert schildert Ernst aus der Sicht der kindlichen, dann jugendlichen Hauptperson namens Karl – eine Sicht, die nach so langer Zeit naturgemäß nicht mehr völlig authentisch sein kann – seine Eindrücke und Erinnerungen aus den letzten Jahren und Monaten in Ostpreußen, was er mit seinen Angehörigen auf der Flucht erlebte und besonders ausführlich, was nach der zufälligen „Strandung“ seiner Familie auf der Nordseeinsel Pellworm geschah. Der 1930 in Königsberg geborene Autor lebt seit 1970 in Kronshagen bei Kiel, wo er bis zu seinem Ruhestand als Deutsch- und Sportlehrer am Max-Planck-Gymnasium tätig war.

Offenkundig hat die Liebe des Erzählers zur Literatur in seinem Erstlingswerk reiche Frucht getragen. Karl besucht das Mohrunger Herder-Gymnasium. Die überalterten Lehrer sind streng und unnahbar, im Unterricht herrscht eine geduckte Stimmung. Sein Vater war als Leiter des Mohrunger Bauamts kraft seines Amtes lange Zeit freigestellt vom Kriegsdienst. Die Mutter, eine eifrige Kirchgängerin, kann Karl sonntags nicht in die Kirche begleiten, weil der Sonntag immer „der Partei“ gehört und er als Jungenschaftsführer des Jungvolks zur Teilnahme an den Aufmärschen verpflichtet ist. So nimmt er auch an einer einwöchigen Schulung in der Napola (Nationalpolitische Erziehungsanstalt) in Stuhm teil. Schwer beschäftigt ist er auch „privat“ beim Aushecken von Streichen mit den Nachbarsjungen und bei Vergnügungen wie dem Baden im Schertingsee, mit Schlittschuhlaufen und Eissegeln mit selbstgebauten Segelschlitten. Besuche bei der Tante in Königsberg und Sommerurlaube mit den Großeltern in Rauschen und Sorgenau an der Samlandküste gehören zu den beliebten jährlichen Unternehmungen mit der ganzen Familie. 

Zeichen der nahenden Front

Spät erst nimmt Karl erschrocken die untrüglichen Zeichen der herannahenden Ostfront wahr. Infolge der Parteipropaganda hatte er am Endsieg des Deutschen Reiches nicht gezweifelt. Im Sommer 1944 wird die Schule Lazarett, und er muss in den Ferien die Seidenraupen füttern, die, so sein Lehrer, Seide für die Fallschirme der Luftwaffe spinnen. 

Das Baby rettete die Familie

Nie mehr nach Königsberg! Dieser bittere Gedanke durchfährt ihn, als die Tante mit den beiden Kusinen nach der Bombardierung Königsbergs vor ihrer Tür steht. „Und plötzlich war ganz Ostpreußen auf den Beinen.“ Die älteren Männer vom Volkssturm warteten am Bahnhof, um irgendwo Panzergräben zu schippen, und der gesamte NS-Apparat schien eingespannt zu sein in die Versorgung der Verwundeten und der Flüchtlingsströme aus dem Memelgebiet.

Als eine der letzten Familien der Nachbarschaft brachen die Mutter und die Tante mit insgesamt fünf Kindern Ende Januar 1945 heimlich nachts in eisiger Kälte auf. Bange Fragen des 15-Jährigen wegen seiner Kaninchen … Noch bevor sie den überfüllten Mohrunger Bahnhof erreichten, von dem kein Flüchtlingszug mehr abfuhr, wurden sie in der Nähe der Gleise von einem Bahnbediensteten angesprochen und überraschend zum Einsteigen in den Güterwagen eines Güterzuges aufgefordert, der ausschließlich für Mitarbeiter der Eisenbahn bestimmt war. Das Baby im Kinderwagen war ausschlaggebend. Dieser kleine Engel, der schon bald darauf sein junges Leben aushauchte, sollte sich während der mehrere Wochen dauernden Flucht über Stolp und Gotenhafen und von dort mit einem Flüchtlingsschiff nach Kiel mehrmals als Retter seiner Familie erweisen.

Dasein als Flüchtlingsfamilie

Licht und Dunkel kennzeichnen das Dasein der Flüchtlingsfamilie auf einem Bauernhof auf Pellworm, wo die primitiven Lebensverhältnisse der Flüchtlinge im klitzekleinen Kabuff sich von denjenigen des Knechtes wenig unterschieden, der in einem Bretterverschlag im Stall hauste. Durch die Fürsprache eines Pastors darf Karl ab 1947 seine schulische Laufbahn auf dem Festland als Schüler des St. Peter-Gymnasiums im Nordseebad St. Peter-Ording fortsetzen. Ob der Fülle an bewahrten Eindrücken und Erinnerungen, die mit lebhaften Dialogen detailreich in Szene gesetzt sind, löst dieser brillant geschriebene Roman Staunen aus und ist ein wirklicher Lesegenuss. 

Erhard Ernst: „Strandgut des Krieges. Ein Leben in zwei Welten“, Husum Verlag, Husum 2020, broschiert, 227 Seiten, 10,95 Euro