Es sind nicht Putin, Trump oder Erdogan, die uns bei aller Unbill, die sie der Welt zumuten, am meisten zu schaffen machen. Selbst die Jahrhundertseuche Corona kommt in Schwere und Tiefe nicht an die Gefährdungen heran, denen sich Bürger heutzutage ausgesetzt sehen, wenn sie ihr von der Verfassung verbrieftes Recht wahrnehmen, frei und öffentlich ihre Meinung zu äußern. Der Ruf nach Gedankenfreiheit, der schon an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert die Menschen in weiten Teilen Europas mit dem Höhepunkt der Französischen Revolution zu gemeinsamer politischer Aktion antrieb, erlebt im 21. Jahrhundert eine unvermittelte Renaissance.
Schrillende Alarmglocken
Bezeichnend für diesen zeitlosen Brückenschlag des Freiheitsbegehrens ist, dass anknüpfend an den Text des bekannten Liedes „Die Gedanken sind frei“, der erstmals um 1780 auf „Fliegenden Blättern“ in Studentenkreisen kursierte, gerade jetzt an das unverbrüchliche Recht auf freiheitliche Meinungsbekundung erinnert wird. Es sieht so aus, als würde das alte Volkslied erneut zur geheimen Hymne all derer avancieren, die sich Angriffen, Verdächtigungen, Denunziationen und Rufmord bis hin zum Jobverlust ausgesetzt sehen, nur weil sie bei ihren öffentlichen Meinungsäußerungen dem unsichtbaren, aber eng gesteckten Meinungskorridor des politisch-korrekt Sagbaren keinen Tribut zollen.
Otto Normalbürger, der in der täglich sich über ihn ergießenden Informationsflut längst die Orientierung verloren hat, dürften derartige Warnrufe zum Verlust der Meinungsfreiheit eher übertrieben erscheinen. Beim kritischen Betrachter der Zeitläufte, der sich seine Wahrnehmungssensibilität für klimatische Umbrüche im Bereich der Bürgerrechte erhalten hat, schrillen dagegen seit langem die Alarmglocken.
Zeichen dessen ist die anschwellende Zahl von Publikationen aus der Feder prominenter Vertreter der schreibenden Zunft, die sich dieser Sache angenommen haben, sei es der ehemalige Redakteur der „Süddeutschen Zeitung“, Birk Meinhardt, der wegen des dort herrschenden repressiven Meinungsklimas seine Zeitung verließ; oder der FDP-Politiker und Bundestags-Vizepräsident Wolfgang Kubicki, der seinem Zorn über die grassierende „MeinungsUnfreiheit“ Ausdruck verlieh, bis hin zur gewitzten Abrechnung des Journalisten Jan Fleischhauer mit den bemühten Großdenkern der Klein-Karo-Fraktion.
„Framende“ Leitmedien
Wobei sich dieser Aufstand gegen die Meinungsgängelei im Kern gegen das zunehmende Auseinanderfallen der beiden Grundrechte Meinungsfreiheit des Bürgers und Pressefreiheit richtet, die von Beginn ihrer Entstehungsgeschichte an stets eine sich gegenseitig stützende Allianz gebildet hatten. Die Rolle der Presse als ursprünglich die Bürgerfreiheit gegen die Staatsmacht schützende Kraft hat nun aber in einer Reihe von Blättern und öffentlich-rechtlichen Rundfunk- und Fernsehanstalten einen markanten Bedeutungswandel erfahren: hin zu einer sich als „Leitmedien“ verstehenden, das Denken der Bürger unter dem Begriff des „Framing“ subsumierenden lenkenden Funktion.
Was sich auf diese Weise mit zunehmender Dauer der Merkel-Ära in Teilen der Medienlandschaft als „Seitenwechsel der Vierten Gewalt“ vom Bürger- zum Staatsschutz abspielte, dürfte vor allem mit den das Mainstream-Denken der Politischen Korrektheit bestimmenden Mächten zu tun haben.
Sinnigerweise unter dem Datum des 18. Oktober 2017, dem 200. Jahrestag der Ausrufung der Grundrechte auf dem Wartburgfest der Burschenschaften, wurden in der „FAZ“ in diesem Zusammenhang die „staatlich alimentierten Antifaschisten“-Netzwerke angesprochen, die nach der Wiedervereinigung als ehemalige DDR-Propagandakader in jenen westdeutschen Redaktionsstuben Unterschlupf fanden, aus denen heraus sich die bereits „seit 1968 eingespielten Diskursmachtverhältnisse“ entfaltet hatten.
Islamisten und Antifaschisten
Die unheilige Allianz aus Antifa und unzähligen Gruppierungen des linksextremen Spektrums bis hin zum politischen Islam ist es, die unter der Tarnkappe „Kampf gegen Rechts“ nicht nur hierzulande, sondern überall in Europa den freiheitlichen Rechtsstaat herausfordert.
Ist es tatsächlich schon wieder fünf Jahre her, seit bei einem Terrorangriff auf die Satirezeitschrift „Charlie Hebdo“ 2015 in Paris zwölf Menschen kaltblütig ermordet wurden? Nur weil sie als Journalisten und Karikaturisten ihr Recht auf die „Liberté“ wahrgenommen haben? Der religiös motivierte, radikalislamische Terror habe doch nichts mit Zuspitzungen im Meinungsstreit bei gesellschaftlichen Auseinandersetzungen zu tun? Das seien doch kriminelle Taten verblendeter Religionsfanatiker?
Ja, sicher waren die Terroristen, die „Charlie Hebdo“ den Garaus machten, von der Geisteskrankheit des Fanatismus befallen. Aber waren die Ermordeten, nur weil sie auf besonders brutale Weise ums Leben kamen, darum weniger Opfer der Unfreiheit und Repression jener – egal ob religiös oder agnostisch motivierten – moralisierenden, ideologisch überhöhten Herrschsucht, die Andersmeinenden bei Sanktionsandrohung im Fall der Nichtunterwerfung vorschreiben will, was sie zu denken, zu schreiben oder zu sagen haben?
Ist nicht dies der eigentliche Grund dafür, dass auch der französische Geschichtslehrer Samuel Paty (47) unlängst sein Leben auf so grausame Weise verlor, nur weil er seinen Schülern anhand von Mohammed-Karikaturen erklären wollte, was Meinungsfreiheit bedeutet?
Wo ist in Bezug auf den Machtanspruch, Lordsiegelbewahrer einziger und letzter Wahrheiten zu sein, der Unterschied zwischen den islamistischen Attentätern von Paris und den ideologischen Scharfrichtern, die in Universitäten, Verlagen, „Leitmedien“, auf Buchmessen, auch zuweilen in der Politik ihr Unwesen treiben? Gewiss: Letztere richten nicht physisch mit dem Schwert, aber auch ihr Urteil kann schnell zur Vernichtung von Existenzen führen; etwa wenn vormals renommierte Autoren plötzlich nicht mehr in Talkshows eingeladen werden, um über ihr neuestes Buch zu sprechen, oder wenn sie keinen Verlag mehr finden, der dieses Buch überhaupt noch publiziert.
Wo Meinungsfreiheit endet
Opfer dieser grassierenden „Cancel Culture“, um hier nur einige Beispiele zu nennen, sind Professoren, die in Uni-Hörsälen gewaltsam an der Ausübung ihres Berufs gehindert werden; Verlage, denen auf Buchmessen von linksextremen Eiferern unter Anwendung physischer Gewalt vorgeworfen wird, dass sie nicht auch links sind, oder – wie vor wenigen Tagen Monika Maron – eine erfolgreiche Autorin, die nicht einmal bezichtigt wird, dass sie falsche Ideen verbreitete, sondern dass sie Kontakte zu missliebigen Personen aus der „Gegenwelt“ unterhält und der deswegen von der Leitung ihres Verlages nach 40-jähriger gemeinsamer Arbeit der Stuhl vor die Tür gesetzt wurde (siehe PAZ 43 und 44/2020).
So vielfältig die Anlässe und Vorfälle sind, bei denen die Meinungsfreiheit heutzutage auf dem Spiel steht, so eng begrenzt ist die Zahl der Themen, bei deren Behandlung das Fallbeil der Aburteilung fällt. So treten die Tugendwächter der Politischen Korrektheit vor allem dann auf den Plan, wenn es um mangelnde Fügsamkeit in folgenden Punkten geht: bei Auflehnung gegen den „Kampf gegen Rechts“, bei dem offenbar inzwischen jeder als „rechts“ gilt, der nicht „links“ ist; bei kritischen Einlassungen zur Zuwanderung; beim ablehnenden Verhalten gegenüber dem Gender-Mainstreaming sowie immer dann, wenn beim Erörtern des „Cultural Clash“ zwischen den agnostisch-liberal geprägten Zivilgesellschaften Europas und den sich ausbreitenden islamisch-orthodoxen Parallelgesellschaften eine Position vertreten wird, die nicht den Vorgaben der herrschenden Lehre entspricht.
„Appell für freie Debattenräume“
Der Eklat um Monika Maron hat seinen eigentlichen Grund darin, dass sie sich in ihren jüngeren Schriften gerade dieser Themenfelder annimmt, getreu der Einstellung des einstigen DDR-Dramatikers Heiner Müller folgend „Wenn das Denken korrekt sein soll, dann gibt es kein Denken mehr“. Das trifft sich mit jener der Aufklärung zugrunde liegenden Sicht, dass die Lebensadern der offenen liberalen Gesellschaft zerstört würden, wenn die Ideologen des Gesinnungsterrors – gleich ob linker oder rechter Provenienz – den Sieg über die rationale Urteilsfähigkeit davontragen würden.
Es erscheint wie ein Lichtblick am Ende des Tunnels der Denksperren und der Repression, dass sich die Schriftsteller Milosz Matuschek und Gunnar Kaiser gerade jetzt zu einem „Appell für freie Debattenräume“ aufgeschwungen haben, der lagerübergreifend von einer großen Zahl prominenter Kulturschaffender und Politiker unterzeichnet wurde. Man möchte ihm ein größeres Echo und eine größere Durchschlagskraft als bisherigen Aufrufen dieser Art wünschen, wobei praktische Unterstützung von unserem im Zentrum der Angriffe stehenden freiheitlich-demokratischen Rechtsstaat sehr hilfreich wäre: der breit gefächerten Phalanx der Freiheitsverächter den staatlichen Geldhahn abzudrehen.
Prof. Dr. Wolfgang Müller-Michaelis ist Volkswirt, Publizist und Blogger mit den aktuellen Schwerpunkten EZB-Geldpolitik und Folgen des Brexit. Er war unter anderem Generalbevollmächtigter der Deutsche BP AG, Direktor der Stiftung Frauenkirche Dresden, Lehrbeauftragter an der Leuphana-Universität Lüneburg sowie Vorstandsvorsitzender des Pommerschen Zentralverbandes e.V. und Sprecher der Pommerschen Landsmannschaft.
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