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13.11.20 / Die Spaltung bleibt / Während weltweit Jubel über den Sieg Joe Bidens bei der US-Präsidentenwahl zu vernehmen ist, wird klar, dass die Gründe für die Wahl Donald Trumps vor vier Jahren noch immer bestehen. Die Mitte der Gesellschaft dünnt weiter aus

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 46 vom 13. November 2020

Die Spaltung bleibt
Während weltweit Jubel über den Sieg Joe Bidens bei der US-Präsidentenwahl zu vernehmen ist, wird klar, dass die Gründe für die Wahl Donald Trumps vor vier Jahren noch immer bestehen. Die Mitte der Gesellschaft dünnt weiter aus
René Nehring

Nun also Joe Biden. Nachdem der Kandidat der Demokratischen Partei am vergangenen Sonnabend zum Sieger der diesjährigen US-Präsidentenwahl und zum 46. Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika ausgerufen wurde, brach nicht nur in den liberalen Hochburgen der USA Jubel aus, sondern auch in vielen Ländern rund um den Globus. 

Einig sind sich die meisten Kommentatoren darin, dass Biden die Wahl vor allem gewonnen hat, „weil er nicht Donald Trump war“, wie es die britische Zeitung „The Daily Telegraph“ formulierte. Es war vor allem der Stil, mit dem dieser so viele Menschen weltweit gegen sich aufgebracht hatte. Ein Präsident, der unzählige Male gelogen hat, der mit seinen Übergriffen auf Frauen geprahlt hatte, der Veteranen verhöhnte (obwohl er selbst sich um den Wehrdienst gedrückt hatte), der reihenweise loyale Mitarbeiter verschliss, der Freund und Feind mit Handelskriegen drohte und dabei Diktatoren wie Kim Jong-un besser behandelte als Verbündete: Dieser Donald Trump stieß unzählige Wähler und Politiker weltweit ab – und mobilisierte die Gegenseite. 

Dennoch – oder gerade deshalb – stellt sich die Frage, warum so viele Menschen einen Politiker gewählt haben, der gerade nach den konservativen Maßstäben seiner eigenen Partei nicht wählbar ist. Und warum er in diesem Jahr noch einmal ein paar Millionen Stimmen mehr erhalten hat als vor vier Jahren. Und warum ihn auch jetzt noch Tausende auf den Straßen wie einen Messias feiern. 

Die Antwort darauf hängt nicht nur mit dem Showtalent zusammen, für das die Gegner Trump hassen und die Anhänger ihn lieben, sondern vielmehr mit einem Gefühl, das Trump seit Jahren wie kein Zweiter bedient: dem Unbehagen über die Globalisierung und die digitale Revolution der vergangenen dreißig Jahre und die mit ihnen einhergehenden vielfältigen Verwerfungen.  

Aufstand gegen die liberalen Eliten

Donald Trump ist der exponierteste Vertreter einer weltweiten Protestbewegung gegen das Gefühl, von den herrschenden Eliten mit diesem Wandel alleingelassen zu werden. Auch in Frankreich, den Niederlanden, Italien oder zuletzt Deutschland errangen populistische Kräfte von links und rechts große Erfolge und wurden so zum Schreckgespenst für die Eliten des liberalen Establishments. 

Diese finden bis heute keine rechte Antwort auf die Herausforderung von den Rändern. Anstatt zu versuchen, den Protest zu integrieren (wie es die Stärke der alten Parteien der Mitte war), setzen die führenden Repräsentanten der Christ- und Sozialdemokratie von heute auf die Ausgrenzung all jener, die eine andere Meinung vertreten als sie selbst. Erinnert sei hier an den Umgang führender CDU-Funktionsträger wie Elmar Brok und Annette Widmann-Mauz mit Mitgliedern der Werteunion. 

In den USA bezeichnete Hillary Clinton im Wahlkampf von 2016 die Wähler Donald Trumps als „Basket of deplorables“ (zu Deutsch etwa als „Haufen der Beklagenswerten“) – und gab damit ungewollt der populistischen Grunderzählung recht, nach der das einfache Volk gegen eine selbstherrliche Politikerkaste aufbegehre, die das Schicksal der Abgehängten und Vergessenen ignoriert. 

Tatsächlich widerlegen tiefergehende Wähleranalysen diese Annahme. So stimmten bei der Präsidentenwahl der vergangenen Woche die Wähler mit einem Haushaltseinkommen über 100.000 US-Dollar zu 54 Prozent für Donald Trump, während Joe Biden hier nur auf 43 Prozent kommt. Letzterer lag dagegen deutlich bei den Wählern mit einem Haushaltseinkommen von unter 50.000 US-Dollar vorn. Mögen in den Augen der liberalen Eliten die Anhänger des Populismus Verlierertypen sein – die Zahlen sprechen eine andere Sprache. Ergo muss der Erfolg Donald Trumps andere Ursachen haben. 

Der Zerfall der alten Strukturen

Ein wesentlicher Grund für den weltweiten Erfolg populistischer Kräfte ist der Zerfall jener Strukturen, die während des Industriezeitalters die Gesellschaft zusammengehalten haben. Mit der Möglichkeit, die ganze Welt zu entdecken, sank offenbar für viele Menschen die Bindung an die regionalen Strukturen ihrer Heimat. Allein in Deutschland haben die großen Volksparteien, Gewerkschaften und auch die großen Kirchen gut die Hälfte ihrer Mitglieder gegenüber 1990 verloren. An ihre Stelle traten oftmals Bürgerinitiativen und NGOs, die eine lockere, aber durchaus zielgerichtete Möglichkeit zur politischen Teilnahme bieten. In anderen Ländern verhält es sich ebenso. 

Mindestens ebenso gravierend sind die ökonomischen Verwerfungen durch die Globalisierung. Wurden in den 70er und 80er Jahren des 20. Jahrhunderts in der Dritten Welt vorrangig vergleichsweise einfache Industrieprodukte wie Textilwaren hergestellt, so werden im 21. Jahrhundert Hightech-Produkte wie Smartphones in Europa und Amerika nur noch entworfen – zusammengebaut werden sie in Asien. Apple lieferte für diese Form der Arbeitsteilung eine treffende Formel: „Designed by Apple in California. Assembled in China“, heißt es auf der Rückseite jedes iPhones, iPads und MacBooks. 

Während mit jedem neu in Asien entstehenden Arbeitsplatz der Wohlstand wächst, gerät er in den alten Industrienationen des Westens in Gefahr. An die Stelle der alten Industriearbeitsplätze, die in der Regel eine gute Qualifikation erforderten und entsprechend gut bezahlt waren, treten nun die prekären Beschäftigungsverhältnisse der Dienstleistungsgesellschaft. Auch die Dienstleistungsgesellschaft gibt vor, eine Einheit zu sein – doch ist in ihr die Mitte bei Weitem nicht mehr so groß wie im Industriezeitalter. Dafür stehen sich nun zwei Pole gegenüber: auf der einen Seite gut ausgebildete Akademiker wie Ärzte, Rechtsanwälte, Webdesigner, Berater oder IT-Programmierer – auf der anderen Pfleger, Reinigungskräfte, Fahrradkuriere, Servicekräfte in der Gastronomie und Paketzusteller. 

In der Folge gilt auch das alte Fortschrittsversprechen der Industriegesellschaft, dass man es mit einer entsprechenden Ausbildung und Fleiß zu etwas bringen kann, nicht mehr. Für die Angehörigen der unteren Ränge der Dienstleistungsgesellschaft ist der Weg nach oben heute weiter denn je. 

Veränderungen der Demographie

Parallel zur sozialen Veränderung der westlichen Gesellschaft vollzieht sich auch ein demographischer Wandel. Während die wohlhabenden Nationen Europas und Nordamerikas seit Jahrzehnten Geburtenrückgänge beklagen, verzeichnen die armen Völker der Dritten Welt hohe Geburtenüberschüsse. Und während hierzulande – als Folge des vorherigen Wohlstandsgewinns – immer weniger Einheimische bereit sind, einfache Arbeiten für eine schlechte Bezahlung auszuführen, bieten für die Kinder der Dritten Welt selbst einfachste Jobs die Möglichkeit, in der Ersten Welt Fuß zu fassen. 

Allerdings erzeugt auch dieser Wandel erhebliche Spannungen und Verwerfungen. Die Neuankömmlinge bringen nicht nur fremde Sprachen mit, sondern auch andere Umgangsformen, religiöse Riten und Wertvorstellungen. Da sie fast immer für die einfachen Tätigkeiten der Dienstleistungsgesellschaft gebraucht werden, landen sie auch fast immer in den ohnehin schon bestehenden sozialen Brennpunkten – und verschärfen die dortigen Konflikte. 

Zum gesamtgesellschaftlichen Problem wird, dass die Eliten unserer Zeit von all dem kaum etwas mitbekommen. Sie leben – wie hinter einer unsichtbaren Grenze – in Wohnvierteln und schicken ihre Kinder in Schulen, zu denen die Angehörigen des Dienstleistungsprekariats kaum Zugang haben. In der Folge haben sie von der Lebenswirklichkeit der Mehrheit im Lande kaum noch eine Ahnung. Sie können es sich leisten, für eine offene Gesellschaft auszusprechen, indem sie sich zugleich vor ihr abschotten. 

Während die Eliten die Folgen des demographischen Wandels nur indirekt erfahren, spüren ihn die Angehörigen der breiten Mittelschicht unmittelbar. Sie verfügen in der Regel nicht über die Mittel für die Errichtung einer unsichtbaren Grenze. Für sie ist der starke Staat mit einer möglichst breiten Absicherung nach innen und außen unverzichtbar. Deshalb sind in diesen Schichten populistische Kräfte besonders erfolgreich. Doch sind es eben nicht die Abgehängten, sondern eher diejenigen, die etwas zu verlieren haben. 

Ignoranz in Parteien und Medien

All das ist von klugen Köpfen längst beschrieben worden. Dennoch fällt es den etablierten Parteien schwer, auf diesen Wandel zu reagieren und die Proteststimmung einzufangen. Stattdessen wird ihnen oftmals vorgeworfen, abgehoben zu sein und die Nöte des „kleinen Mannes“ gar nicht mehr zu kennen. Natürlich sind derlei Pauschalurteile zumeist nicht richtig – oft genug aber auch nicht ganz falsch. Ein Bundestagsabgeordneter mit einer Aufwandsentschädigung von inzwischen über 10.000 Euro im Monat lebt ganz einfach in einer anderen Welt als weit über 90 Prozent der Wähler. 

Eine unselige Rolle spielen in diesem Kontext die Medien. Auch die Journalisten gehören in der Regel zu den akademischen Oberschichten der neuen Zeit – und verhalten sich entsprechend. Sie leben zumeist in den Wohlstandsquartieren – und bekommen entsprechend wenig mit vom Leben breiter Teile jener Leser, Zuschauer und Hörer, für die sie doch eigentlich arbeiten. Entsprechend verzerrt wird zunehmend die Berichterstattung. Werden die Journalisten doch einmal mit der Wirklichkeit konfrontiert – zum Beispiel bei Rassenunruhen in den USA oder bei radikalislamischen Attentaten in Europa –, dann wird nicht etwa das eigene Denken der Wirklichkeit angepasst, sondern versucht, die Wirklichkeit so zu beschreiben, dass sie wieder zu den eigenen gedanklichen Vorstellungen passt. 

Doch lassen sich auf die Dauer weder der gesellschaftliche Wandel noch die mit ihm einhergehenden sozialen, kulturellen und demographischen Verwerfungen ausblenden. Ganz im Gegenteil führte die lange Ignoranz dazu, dass der Frust in weiten Teilen der Bevölkerung gegenüber dem liberalen Establishment so groß war, dass ein Anti-Held wie Donald Trump, der offenkundig auf alle Gepflogenheiten eben jenes Establishments pfiff, zu ihrem Helden wurde. Und da sich an dieser Konstellation nichts geändert hat, werden weder das Phänomen Donald Trump verschwinden noch die populistischen Pendants in anderen Teilen der Welt. 

Lehren für die Populisten

Allerdings sollte das Wahlergebnis in den USA auch den Populisten zu denken geben. Denn trotz eines historischen Rekordergebnisses für die Republikanische Partei und trotz des drittbesten Ergebnisses in der Geschichte der USA hat es für Donald Trump nicht für die Wiederwahl gereicht:  weil eben jener Stil, mit dem er seine Anhänger begeisterte, die Mehrheit der Wähler abschreckte – und seinem Gegenüber dazu verhalf, noch mehr Menschen zu mobilisieren. Auch in anderen Ländern zeigt sich, dass populistische Effekthascherei kurzfristig große Erfolge erzielen, aber ebenso schnell verfliegen kann. 

Langfristig dürften sich in Amerika wie in Europa diejenigen Kräfte durchsetzen, die der verunsicherten Mitte wieder Orientierung, Halt und Sicherheit geben.