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13.11.20 / Deutsche und Polen / Das asymmetrische Bild einer Nachbarschaft / Das „Jahrbuch Polen 2020“ widmet sich unterschiedlichen Aspekten der deutsch-polnischen Zusammenarbeit

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 46 vom 13. November 2020

Deutsche und Polen
Das asymmetrische Bild einer Nachbarschaft
Das „Jahrbuch Polen 2020“ widmet sich unterschiedlichen Aspekten der deutsch-polnischen Zusammenarbeit
Karlheinz Lau

Der Begriff „Polnische Wirtschaft“ wurde Ende des 18. Jahrhunderts im preußisch-russischen Teilungsgebiet geprägt. Er bedeutet so viel wie Schlamperei, Faulheit, Armut oder Rückständigkeit. 

Es ist verwunderlich, wie zäh sich dieser Begriff bei einigen hält angesichts der Tatsache, dass seit Öffnung der Grenzen tausende von polnischen Bürgern in Deutschland leben und arbeiten. Sie sind nicht nur in sogenannten niederen Dienstleistungen beschäftigt, sondern auch Ärzte, Anwälte, Kaufleute, Handwerker und viele mehr sind vornehmlich in den Ballungszentren tätig. Besonders ausgeprägt sind die Wirtschaftskontakte in der grenznahen Region der Länder Mecklenburg-Vorpommern, Brandenburg und Sachsen. Hinzugefügt werden müssen die zahlreichen Städtepartnerschaften zwischen polnischen und deutschen Kommunen, Schulen und Organisationen wie das deutsch-polnische Jugendwerk oder die deutsch-polnischen Gesellschaften. Eine wichtige Funktion übt die Universität Viadrina in Frankfurt an der Oder aus. Sie ist Europa-Universität, die Mehrzahl der Studenten kommt aus Polen und aus Deutschland. 

Landsmannschaften nicht vergessen

Zu den genannten Fakten dürfen die deutschen Heimatvertriebenen nicht vergessen werden. Schon vor der friedlichen Revolution 1989/9o waren sie die erste Gruppe in der alten Bundesrepublik, aber auch in der Ex-DDR, und dann im vereinten Deutschland, die Verbindungen zu Polen aufbauten, und heute ist das ein zentrales Aufgabenfeld der landsmannschaftlichen Arbeit. Leider wird diese grenzüberschreitende Arbeit der Vertriebenen von der deutschen Öffentlichkeit kaum wahrgenommen. Auch die Tatsache, dass in den letzten Jahren Polen in wirtschaftlicher Hinsicht ein immer engerer Partner für Deutschland geworden ist – immerhin die Nummer 5 im Außenhandel – wird kaum beachtet. Wer die Kolonnen polnischer Lkw auf der Autobahn nach Frankfurt an der Oder einmal erlebt hat, erhält einen Eindruck von der Intensität des Wirtschaftsaustauschs zwischen beiden Ländern.

Dieses asymmetrische Bild einer Nachbarschaft, in der weit mehr Polen auf Deutschland blicken und die Sprache sprechen als umgekehrt, möchte das „Jahrbuch Polen 2020“ verringern. Hier bietet sich das Thema Wirtschaft geradezu an. 17 Autoren, davon ein Deutscher, bearbeiten aus unterschiedlichen Perspektiven das Thema. Es sind Soziologen, Wirtschaftswissenschaftler, Schriftsteller, Historiker, Geografen sowie Journalisten, aber leider kein Vertreter aus der Wirtschaft, wie auch kein deutscher Wirtschaftsexperte bei den engen Beziehungen beider Volkswirtschaften. 

Der Weg zur Marktwirtschaft

Die Autoren sind – soweit erkennbar – in Deutschland nicht bekannt. Zentraler Punkt für die Beiträge ist die Entwicklung der Volkswirtschaft vom kommunistischen Modell einer zentralen Lenkung zur freien Marktwirtschaft. Dieser Prozess begann mit dem Entstehen der freien Gewerkschaft Solidarität in Danzig um 1980 mit Debatten über notwendige Wirtschaftsreformen. Die Verkündung des Kriegsrechts 1981 unterbrach diese Entwicklung, es war das letzte Aufbäumen des alten Regimes. Die marktwirtschaftliche Transformation begann in den 1990er Jahren mit dem ersten freigewählten Ministerpräsidenten Tadeusz Mazowiecki. Sein Chefberater wurde der „polnische Ludwig Erhard“, Leszek Ballcerowicz, Wirtschaftsfachmann mit Auslandserfahrungen in den USA und in Deutschland. Die Essays von Plociennik, Vetter und Stremecka beschreiben ausführlich den Weg Polens als erstem demokratischen Staat im Herrschaftsbereich der Sowjetunion in die freie Marktwirtschaft. 

Hier sind in der Folge eklatante Schwierigkeiten entstanden, zum Beispiel ein Mangel an gut ausgebildeten Fachleuten, hervorgerufen durch eine starke Auswanderung, vornehmlich nach Großbritannien und Irland. Diese hat die Altersstruktur der einheimischen Bevölkerung beeinflusst. Die Weigerung der Regierung, eine Quote für Ausländer aus afrikanischen, arabischen und asiatischen Regionen aufzunehmen, wird mit der Aufnahme Tausender ukrainischer Flüchtlinge begründet. 

Alle Beiträge sind anspruchsvoll, manchmal zu akademisch. Leider kommen keine Vertreter der polnischen Wirtschaft zu Wort, das Spektrum wäre breiter geworden. Entsprechendes gilt auch für mehr deutsche Autoren, die aus Sicht des deutsch-polnischen Handels das Thema beleuchten. Vermisst werden auch konkrete Angaben über die Produktpalette der polnischen Angebote, über die Stellung der Landwirtschaft zur Industrieproduktion sowie zum Dienstleistungssektor einschließlich des Tourismus. 

Für den deutschen Leser – und er ist ja wohl die Zielgruppe – wären Informationen über den Stellenwert der sogenannten Polenmärkte im deutsch-polnischen Grenzbereich, über die sich dort entwickelnden Wirtschafts- und Handelsbeziehungen von Interesse. In diesen Regionen, die weit nach Mittelpolen reichen, ist nicht der Zloty, sondern der Euro das hauptsächliche Zahlungsmittel. Warum also keine Anpassung an die EU? Ein weiteres Defizit – wie auch in den vorherigen Jahrbüchern – ist das Fehlen einer Übersichtskarte, die dem Leser räumliche Vorstellungen bietet. Aber auch thematische Karten – Agrar, Bodenschätze und so weiter – sollten bei dem Thema Wirtschaft nicht fehlen. Schade, das Jahrbuch hätte bei der so wichtigen Thematik mehr bringen können.

Deutsches Polen-Institut  (Hg.): „Jahrbuch Polen. Polnische Wirtschaft“, Harrassowitz Verlag, Wiesbaden  2020, broschiert, 195 Seiten, 13,50 Euro