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20.11.20 / Verletzungen des Kriegs- und des Völkerrechts / Wenn Deutschland nicht die Weltkriege verloren hätte / Aufgrund des Ausgangs der beiden Waffengänge ist der Arbeit von Preußens Militäruntersuchungsstelle und der Wehrmacht-Untersuchungsstelle unangemessen wenig Beachtung geschenkt worden

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 47 vom 20. November 2020

Verletzungen des Kriegs- und des Völkerrechts
Wenn Deutschland nicht die Weltkriege verloren hätte
Aufgrund des Ausgangs der beiden Waffengänge ist der Arbeit von Preußens Militäruntersuchungsstelle und der Wehrmacht-Untersuchungsstelle unangemessen wenig Beachtung geschenkt worden
Wolfgang Kaufmann

Durch die Kapitulation der Wehrmacht und die Besetzung des Territoriums des Deutschen Reiches waren Deutschlands alliierte Kriegsgegner vor 75 Jahren noch sehr viel stärker als nach dem Ersten Weltkrieg in der Lage, Siegerjustiz zu üben und die Geschichte zu schreiben – so beispielsweise mit Hilfe der Nürnberger Prozesse. Seitdem werden fast nur noch die von Deutschen begangenen Kriegsverbrechen thematisiert. 

Dabei gab es durchaus auch alliierte Verbrechen. Sowohl im Ersten Weltkrieg als auch im Zweiten existierten extra Einrichtungen, die sich deren Untersuchung widmeten: Preußens Militäruntersuchungsstelle für Verletzungen des Kriegsrechts (MUSt) im Ersten Weltkrieg und die Wehrmacht-Untersuchungsstelle für Verletzungen des Völkerrechts (WUSt) im Zweiten Weltkrieg. Wenn das Deutsche Reich nicht die beiden Weltkriege verloren hätte, wüsste die Öffentlichkeit sicherlich mehr über die Arbeit dieser beiden Dienststellen.

Prozesse gegen 400 Personen

Mit der verbindlichen Kodifizierung des Kriegsvölkerrechts auf den Haager Friedenskonferenzen von 1899 und 1907 sowie in den Genfer Konventionen erhielten die Militärjuristen die Möglichkeit, das Verhalten des Gegners sowie auch der eigenen Truppe auf seine Rechtmäßigkeit hin zu beurteilen. Dies führte nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs zur Einsetzung von entsprechenden Untersuchungskommissionen – zunächst auf belgischer, französischer und britischer Seite und dann im preußischen Kriegsministerium. Dort entstand am 19. Oktober 1914 die Militäruntersuchungsstelle für Verletzungen des Kriegsrechts. Diese hatte zur Aufgabe, „Verletzungen der Gesetze und des Völkerrechts – Kriegsgebrauchs – festzustellen, deren sich feindliche Militär- und Zivilpersonen gegen die preußischen Truppen schuldig gemacht haben, sowie Aufklärung zu schaffen über Anschuldigungen dieser Art, die gegen Angehörige des preußischen Heeres von feindlicher Seite erhoben werden“. 

Dazu befragte die MUSt alle vorhandenen Zeugen unter Eid und legte dann Ermittlungsakten an, die nach einem Sieg die Grundlage für Prozesse gegen mehr als 400 Personen gewesen wären. Außerdem diente das gesammelte Material als Datenbasis für formelle Protestnoten an die Adresse der feindlichen Mächte oder des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz.

Untersucht wurden unter anderem das Vorgehen deutscher Soldaten anlässlich des Auftretens von bewaffneten Zivilisten beziehungsweise Heckenschützen in der belgischen Stadt Löwen im August 1914, französische Grausamkeiten gegenüber preußischen und anderen deutschen Verwundeten oder Gefangenen sowie Kriegsrechtsverstöße durch die Briten zur See. Zu letzteren zählte beispielsweise die Ermordung der Überlebenden des versenkten deutschen U-Bootes U 27 durch die Besatzung des Dampfers „Baralong“ am 19. August 1915.

Die MUSt existierte bis Ende 1919, dann diente ihr Aktenbestand noch als Quelle für die umfangreiche Publikation „Völkerrecht im Weltkrieg“, die 1927 veröffentlicht und von einer Untersuchungskommission des Deutschen Reichstages zusammengestellt worden war. Anschließend ging das Material an das Heeresarchiv in Potsdam.

Mit Ausbruch des Zweiten Weltkriegs kam es sofort zu zahlreichen Übergriffen polnischer Militärangehöriger und Zivilisten auf die volksdeutsche Minderheit oder gefangene und verwundete deutsche Soldaten. Daraufhin initiierten einige Mitarbeiter der Wehrmacht-Rechtsabteilung um deren Chef Rudolf Lehmann die Gründung der Wehrmacht-Untersuchungsstelle für Verletzungen des Völkerrechts (WUSt), die fast wortwörtlich den gleichen Auftrag erhielt wie seinerzeit die preußische MUSt. Darüber hinaus gab es auch eine personelle Kontinuität, denn an der Spitze der WUSt stand der Berliner Notar und Oberkriegsgerichtsrat Johannes Goldsche, der bis zur Auflösung der MUSt als Stellvertreter des Leiters dieser Untersuchungsstelle fungiert hatte.

Die WUSt entstand am 4. September 1939 auf Befehl des Chefs des Oberkommandos der Wehrmacht, Generaloberst Wilhelm Keitel. Zur Erleichterung ihrer Tätigkeit erließ der Reichsjustizminister Franz Gürtner am 10. Oktober 1939 eine Allgemeinverfügung, die sämtliche zivilen Justizbehörden zur Mitwirkung an den Ermittlungen der WUSt verpflichtete. Die Untersuchungsstelle war der Gruppe 3 (Völkerrecht) der Wehrmacht-Rechtsabteilung unterstellt. Zu ihren ständigen Mitarbeitern gehörten Feldkriegsgerichtsrat Martin Heinemann, Oberkriegsgerichtsrat Hermann Huvendick und Kriegsgerichtsrat Lothar Schöne.

Diese Militärjuristen leiteten nicht nur die Ermittlungen zu den polnischen Kriegsverbrechen vom September 1939, sondern auch in vielen weiteren Fällen von Kriegsrechtsverletzungen. Dazu zählten zum einen Übergriffe von Wehrmacht-Angehörigen gegenüber Zivilisten in der Kampfzone oder den besetzten Gebieten, zum anderem die sehr viel häufiger verzeichneten Verstöße westalliierter und sowjetischer Militärs. Darunter beispielsweise die Erschießung von rund 180 deutschen Kriegsgefangenen bei Broniki in der Ukraine am 1. Juli 1941, die bestialische Tötung von etwa 160 deutschen Verwundeten im Lazarett von Feodosia auf der Krim im Januar 1942 sowie auch die sowjetischen Massaker an polnischen Offizieren in Katyn und die Ermordung schiffbrüchiger Angehöriger der deutschen Kriegsmarine durch britische Seeleute während der Schlacht um Narvik und der Kampfhandlungen im östlichen Mittelmeer. Nicht zu vergessen die Versenkung des deutschen Lazarettschiffs „Tübingen“ im November 1944 seitens zweier britischer Jagdbomber.

Viele der Akten der MUSt und WUSt, die im Heeresarchiv von Potsdam lagerten, wurden in der sogenannten Nacht von Potsdam, den verheerenden Luftangriffen der Royal Air Force in der Nacht vom 14. zum 15. April 1945, vernichtet. Vom Bestand der MUSt überdauerten lediglich elf Bände, während von den Unterlagen über die rund 8000 Ermittlungsfälle der WUSt etwa die Hälfte verbrannte. Deshalb lassen sich die Kriegsverbrechen der Anti-Hitler-Koalition heute besser dokumentieren als die Übergriffe der Entente während des Ersten Weltkriegs. Das noch existierende Aktenmaterial der WUSt lagert inzwischen ebenso wie das der MUSt im Bundesarchiv-Militärarchiv in Freiburg im Breisgau und umfasst alles in allem 226 Bände, die fünfeinhalb Regalmeter einnehmen.

Einsichtnahme erst ab 1965

Dass Forscher diese Unterlagen inzwischen auswerten können, um Kriegsrechtsverletzungen anhand von zeitgenössischen Originalquellen zu rekonstruieren, ist keine Selbstverständlichkeit. Denn sämtliche Akten, die nicht in Potsdam verbrannten oder zeitgleich im Ausweichquartier der WUSt im thüringischen Langensalza in Flammen aufgingen, wurden von US-Truppen beschlagnahmt und zwei Jahrzehnte unter Verschluss gestellt. 

Eine Einsichtnahme war erst ab 1965 möglich, und 1968 kehrte der Restbestand der WUSt und MUSt dann wieder nach Deutschland zurück. Wie viel brisantes und den Westen oder die Sowjetunion belastendes Material vorher für immer in den Tresoren der Amerikaner verschwand, wissen indes nur die Archivare im Dienste des US-Militärs.