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27.11.20 / „Die Frohe Botschaft ist unverzichtbar“ / Über das Agieren der Kirchen im Lockdown, die künftige programmatische Ausrichtung der Protestanten sowie die bevorstehende Advents- und Weihnachtszeit

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 48 vom 27. November 2020

„Die Frohe Botschaft ist unverzichtbar“
Über das Agieren der Kirchen im Lockdown, die künftige programmatische Ausrichtung der Protestanten sowie die bevorstehende Advents- und Weihnachtszeit
René Nehring

Im Gespräch mit Christine Lieberknecht

Die Kirche hat Hunderttausende Menschen alleingelassen.“ Mit dieser Aussage in einem Interview mit der „Welt“ sorgte die frühere Ministerpräsidentin des Freistaats Thüringen im Mai für Aufsehen. Inzwischen ist einige Zeit vergangen. Haben die Kirchen aus den Erfahrungen des Frühjahrs gelernt? Und wie geht es ihnen grundsätzlich, in Zeiten von Corona und darüber hinaus? Fragen an eine engagierte Christin, die als Pastorin und Politikerin der Gesellschaft auf vielfältige Weise gedient hat. 

Frau Lieberknecht, Sie haben im Frühjahr die Kirchen öffentlich kritisiert, weil diese während des Lockdown zu wenig für die Gläubigen da gewesen seien. Was genau war damals Ihre Kritik?

Ich habe meine damalige Kritik mit Blick auf eine Gruppe von Personen geäußert, die besonders schwach und hilfsbedürftig ist und im Alltag kaum wahrgenommen wird: unsere Mitmenschen in den Pflegeheimen und Krankenhäusern. Ich habe kritisiert, dass viele von ihnen im Sterben lagen und wegen des Lockdowns in ihren letzten Stunden keinen seelischen Beistand erfahren haben. Ich fand, dass sich die Kirche in jenen Wochen zu sehr an die Seite drängen lassen hat. Allerdings ist dies nun schon einige Monate her, und seitdem hat sich einiges getan. 

Vertreter der Kirchen haben auf ihre Kritik mit Unverständnis reagiert und unter anderem darauf verwiesen, dass die digitalen Angebote der Kirche und auch die telefonische Seelsorge intensiviert worden seien. 

Ich weiß, dass es in dieser Zeit sehr viele Seelsorger und auch Gemeindeglieder gab, die sich unglaublich bemüht haben. Und natürlich gab es neben der Telefonseelsorge, die ja nicht neu ist, Podcasts und digital übertragene Gottesdienste. In dieser Hinsicht hat die Kirche sehr schnell auf die Herausforderung durch Corona reagiert. Doch wenn ein Mensch nach einem erfüllten Leben an der Schwelle zum Tode steht, braucht er den Beistand in unmittelbarer Nähe und nicht an einem Bildschirm. 

Hinzu kam, dass mir in einer Situation, in der tausende Menschen – Corona-Patienten wie deren Angehörige – mit dem Tode konfrontiert waren, ein orientierendes theologisches Wort in unserer Gesellschaft gefehlt hat. Allerdings hat der Vorsitzende des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland, Heinrich Bedford-Strohm, dies später nachgeholt, unter anderem in einem Artikel für die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“. 

Im Frühjahr gab es Medienberichte darüber, dass sich manche Pfarrer nicht an die Vorgaben gehalten und mehr oder weniger heimlich Messen gehalten haben. Ist Ihnen davon etwas zu Ohren gekommen? 

Ja. Es war eine Zeit der Gratwanderungen. Auch ich habe im Sinne des Priestertums aller Gläubigen Kranke besucht, als man eigentlich nicht in andere Haushalte gehen sollte. Auch wir haben in unserer Kirche Andachten im kleinen Kreis gehalten. Und wir waren sicher nicht die Einzigen. Da gibt es eine Verantwortung auch vor Gott, die unmittelbar ist. Ich gehe davon aus, dass diejenigen, die so gehandelt haben, dies jeweils verantwortungsvoll getan haben. 

Inzwischen haben wir einen zweiten Lockdown. Was macht die Kirche jetzt besser?

Der gegenwärtige Teil-Lockdown zeigt, dass sowohl Politik als auch Kirchen und natürlich auch die Virologen durchaus aus den Erfahrungen des Frühjahrs gelernt haben. So wurden zum Beispiel die Schulen diesmal nicht geschlossen. Zudem wird darauf geachtet, dass der Schutz der Alten nicht wieder mit deren vollständiger Isolation verbunden ist. 

Dennoch ist die Stimme der Kirchen auch jetzt wieder kaum zu vernehmen. 

Ich finde, dass die Kirchen sehr wohl präsent sind, zum Beispiel in den Pandemiestäben. Und dass sie dort für die Schwachen und die am Rande unserer Gesellschaft Stehenden das Wort ergreifen. So hat Diakonie-Präsident Ulrich Lilie deutlich gefordert, dass es keine erneute Isolation der Alten geben dürfe. Auch für die seelsorgerliche Betreuung der Alten und Kranken setzen sich die Kirchen ein. Es gelingt ihnen nun besser darzulegen, dass der Mensch nicht vom Brot allein lebt, sondern auch vom Wort Gottes. Das heißt, dass die virologische Sicht auf das Geschehen zwar eine eminent wichtige Sicht ist, aber eben nicht die einzige. 

Parallel zum ersten Lockdown hat sich in der EKD eine Debatte über die grundsätzliche Ausrichtung der Kirche entwickelt, ausgelöst durch das Arbeitspapier „Kirche auf gutem Grund. Elf Leitsätze für eine aufgeschlossene Kirche“. Dieses rät den Protestanten, verkürzt gesagt, sich von der klassischen Gemeindekirche verstärkt zu einer „Bewegungskirche“ zu entwickeln, die sich wie eine NGO in bedeutsamen gesellschaftlichen Fragen engagiert. So könnten die Kirchen auch in Zeiten sinkender Mitgliederzahlen ihre Relevanz erhalten. Wie stehen Sie dazu?

Zunächst einmal finde ich es wichtig, dass Kirche die gesellschaftlichen Veränderungen wahrnimmt und sich mit ihrer eigenen Zukunft beschäftigt. Dabei sollte sie allerdings auch einen Blick dafür haben, was unsere Gesellschaft ausmacht und was diese zusammenhält. Die Kirche ist eine der wenigen Institutionen, in denen Menschen aus allen Schichten, Berufen und Generationen zusammenfinden – und zwar in der klassischen Gemeinde mit ihren Gottesdiensten und sonstigen Angeboten. Deshalb wäre es zu kurz gegriffen, wenn sich die Kirche künftig vorrangig auf einzelne Projekte fokussieren würde. Natürlich sollen sich Christen in sozialen Fragen oder für die Umwelt und somit für die Bewahrung der Schöpfung einsetzen, doch würde eine Konzentration auf Projektarbeit dem kirchlichen Auftrag nur unvollständig entsprechen.

Ich weiß, dass es unter Pastoren eine große Frustration gibt, weil die Gemeinden kleiner werden oder weil sie mehrere Gemeinden betreuen müssen und gar nicht mehr überall predigen können. Dennoch sollten wir die Ortsgemeinden als Kernstruktur unserer Kirche keineswegs aufgeben. Jesu Auftrag „Wo zwei oder drei versammelt sind in meinem Namen, da bin ich mitten unter ihnen“ (Matthäus 18,20), gilt noch immer. Als Pastorin in Dörfern mit Kleinst-Gottesdiensten habe ich selbst viele Jahre erlebt, wie wichtig auch diese kleinen Gottesdienste sind. Auch dort werden die Hände gefaltet, auch dort wird gebetet, und das nicht weniger, sowohl für den Nächsten als auch für die Welt. Diese Gottesdienste zu erhalten ist mitnichten nostalgische Traditionsbewahrung, sondern ein Quell, aus dem immer wieder neue Kraft entsteht. 

Droht der Kirche eine Entwicklung hin zu einem sozialen Dienstleister mit vielleicht besonderem ethischen Anspruch, der zwar professionell Krankenhäuser betreibt, aber den eigentlichen Auftrag, nämlich die Verkündigung von Gottes Wort, aus den Augen verliert? 

Für mich ist die Botschaft vom Wort Gottes, die Frohe Botschaft unverzichtbar. Das Wort Gottes ist allen Geboten der Liebe und der Barmherzigkeit vorgelagert. Kirche ist eben kein sozialer „Dienstleister“, auch wenn diese Aufgabe unsere diakonischen Werke dominiert. Wir haben in beiden Kirchen große Beispiele dafür, Albert Schweitzer und Mutter Teresa zeigen es, wie Spiritualität und praktische Nächstenhilfe ineinandergreifen. Doch beide hätten sich nie darauf reduzieren lassen, soziale „Dienstleister mit einer besonderen Ethik“ zu sein.

Die Arbeit an den „Elf Leitsätzen“ begann 2017, also zu dem Zeitpunkt, als die evangelische Kirche den 500. Jahrestag der Reformation feierte. Ist der Elan dieses Jubiläums schon wieder verschwunden?

Das Reformationsjubiläum war ein großartiges Fest. Und das nicht nur bei den zentralen Feierlichkeiten in Berlin und Wittenberg, sondern auch und gerade bei unzähligen Veranstaltungen in den Ortsgemeinden. Andererseits verzeichnen beide Kirchen nach wie vor dramatische Austrittszahlen. Da muss man sicherlich auch das bisherige eigene Wirken kritisch hinterfragen. Grundsätzlich ist die Frage der Zukunft der Kirche kein Problem der Strukturen, sondern vor allem der Lebendigkeit des Glaubens. Wer andere überzeugen will, muss selbst brennen für das Wort Gottes und muss dieses Wort in die Welt tragen. 

Wir stehen am Beginn der Adventszeit und vor dem Weihnachtsfest. In Zeiten von Corona werden diese sicher anders ausfallen als gewohnt. Die meisten Weihnachtsmärkte, die sonst trotz allen Trubels die Menschen allmählich einstimmen auf die Festtage, sind abgesagt. Was wünschen Sie sich ganz persönlich für diese Zeit in diesem ganz besonderen Jahr? 

Ich blicke auf diese Zeit mit gemischten Gefühlen. Als Bürgerin mache ich mir große Sorgen um diejenigen unter uns, die im Zuge der Corona-Maßnahmen – deren Notwendigkeit ich nicht bestreiten möchte – wirtschaftliche Einbußen hinnehmen müssen. Hier wünsche ich mir, dass wir diesen Menschen nicht nur mit staatlichen Hilfsprogrammen, sondern auch mit eigener gelebter Solidarität beistehen; dass wir ihnen zeigen, dass sie nicht vergessen sind. Jeder von uns kann sich zum Beispiel fragen, ob er Geschenke wirklich bei einem großen Versandhändler ordern muss, oder ob er die nicht auch beim kleinen Händler um die Ecke bestellen kann. 

Als Christin ist für mich der Advent jedoch vor allem eine Zeit der Besinnung, der Nachdenklichkeit. Und somit von alters her das Gegenteil von dem, was wir in den letzten Jahrzehnten mit all dem Trubel daraus gemacht haben. Möglicherweise bietet uns diese Corona-Zeit die Gelegenheit, uns wieder stärker darauf zu besinnen – auf das, was unser Leben, aber auch unseren Glauben eigentlich ausmacht. 

Der Advent und erst recht die Weihnachtszeit sind für die Kirchen normalerweise eine absolute Hochzeit – mit vollen Gottesdiensten und kräftigem Gemeindegesang. Muss all das in diesem Jahr entfallen? 

Nicht unbedingt. Im Moment gibt es zum Beispiel Überlegungen, die Krippenspiele unter freiem Himmel stattfinden zu lassen, damit möglichst wenig entfallen muss. Hier ist – wie derzeit überall in unserer Gesellschaft – auch in den Kirchen Kreativität gefragt. Viele Gemeinden „streamen“ ihre Gottesdienste inzwischen direkt, sodass auch diejenigen Gemeindeglieder, die zu Hause bleiben müssen, dort Gottes Wort hören können. 

Aber auf den Gesang von „O du fröhliche“ müssen wir diesmal verzichten? 

Wie kommen Sie denn auf die Idee? Wenn Sie bedenken, in welchen Zeiten der Bedrückung und Entsagung die meisten Weihnachtslieder entstanden sind! Auch „O du fröhliche“ gehört dazu. Johannes Falk, der Schöpfer dieses wunderbaren Liedes, musste den Tod von vier eigenen Kindern hinnehmen und nahm mit seiner Frau dreißig fremde Kinder bei sich auf, die durch die napoleonischen Kriege zu Waisen geworden waren. Davon sind wir bei allem Corona-Leid doch meilenweit entfernt. 

Wir haben uns dank des medizinischen Fortschritts des Todes entwöhnt; aber die Welt war nie frei davon. Und auch die Bibel ist voll von Geschichten im Angesicht des Todes – und seiner Überwindung durch den Kreuzestod Christi. Darin liegt doch der tiefe Sinn der Menschwerdung Gottes. Der Gekreuzigte und das Kind in der Krippe gehören zusammen. Das ist letzte Wahrheit. Das ist Weihnachten. Deswegen werde ich singen, von Freude und Frieden.

Das Interview führte René Nehring.






Zur Person 

Christine Lieberknecht wuchs in einem evangelischen Pfarrhaus im thüringischen Leutenthal auf und war nach ihrem Studium der Theologie selbst Pastorin im Kirchenkreis Weimar. Von 1991 bis 2019 war sie Abgeordnete im Thüringer Landtag und von 2009 bis 2014 Ministerpräsidentin des Freistaates Thüringen. 

www.christine-lieberknecht.de