25.04.2024

Preußische Allgemeine Zeitung Zeitung für Deutschland · Das Ostpreußenblatt · Pommersche Zeitung

Suchen und finden
27.11.20 / Nachruf / Reis mit Beethoven / Knapp 100-jährig starb in Rom die Ostpreußin Vera Macht – Mutter, Zeitzeugin und Künstlerin

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 48 vom 27. November 2020

Nachruf
Reis mit Beethoven
Knapp 100-jährig starb in Rom die Ostpreußin Vera Macht – Mutter, Zeitzeugin und Künstlerin
Wolfgang Thielke

Optimismus war ihre Lebensphilosophie: „Covid? Ihr habt den Krieg nicht erlebt!“ Was Vera Macht, geboren am 25. Oktober 1920 in Rostken, Kreis Johannisburg, nicht erschrecken konnte, war letztlich entscheidend für ihren Tod am 24. September dieses Jahres in Rom. Sie erkrankte zwar nicht an Covid, litt aber unter der Ausgangs- und Kontaktsperre des Lockdowns in Italien. Der Verzicht auf die täglichen Spaziergänge, die fehlenden Besuche und das physische Fernbleiben von Töchtern und Enkeln bereiteten den Boden für ihr unerwartetes Ableben. Nein, sie wollte eigentlich nicht so früh sterben, sie wollte nicht nur die 100 erreichen und an diesem Tag öffentlich Beethovens Apassionata spielen – nicht in Rom, wo sie lebte, sondern in New York.

Apassionata in New York zum 100.

Vera Macht hatte ihr Leben lang Ziele. Und sie hatte bis zuletzt unerschöpfliche Kraft und ungebrochenen Lebensmut. Sie hinterließ vier Töchter, vier Enkel und drei Urenkel. Sie malte hunderte, vielleicht sogar tausende Bilder, schrieb Gedichte und das Buch „Von Saratow nach Sindeldorf“, die Geschichte ihrer Familie.

Vera Macht war tüchtig und resolut. Tüchtig, weil sie ohne finanzielle Unterstützung durch den Vater ihre vier Töchter großgezogen hat. Sie hatte den Lebensunterhalt durch Nähen und Bildermalen verdient. Resolut, weil sie vor Gerichten in Allenstein und Bialystok gegen eine polnische Zeitschrift, die Lügengeschichten über ihren Vater verbreitete, die Unterlassung und eine öffentliche Entschuldigung erstritt. Und weil sie, mehr Preußin als Deutsche, bis ins hohe Alter ihrer Heimat treu blieb. Weil sie am Geschehen in Ortelsburg [Szczytno] rege teilnahm, selbst Initiativen ergriff und dort mit schwer verdientem Geld für die Anschaffung von Musikinstrumenten im Gymnasium sorgte.

Geboren und aufgewachsen in einer Zeit unsäglicher Armut und Hoffnungslosigkeit, in einem Land, das schwer unter den Folgen des Krieges litt, hatte Macht das Glück, eine unbeschwerte Jugend zu verbringen. Sie durchschwamm mit 13 Jahren den großen Haussee bei Ortelsburg, profilierte sich als Turnerin, fuhr Ski und Schlittschuh und bestand das Abitur am Ortelsburger Lyzeum mit Auszeichnung, ohne dem nationalsozialistischen Bund Deutscher Mädel (BDM) anzugehören. Und für die Zeit unter dem Nationalsozialismus unmöglich, studierte sie, zunächst in Königsberg, später in Italien.

Vera Macht, die neben Deutsch bereits Französisch und Russisch sprach, studierte in Perugia Italienisch. Hier entdeckte sie auch ihre Passion, die Kunst.

Kunststudium in Rom

Sie zog nach Rom, lernte dort das Bildermalen an der Kunstakademie, doch dann zerstörte der Zweite Weltkrieg ihre Ziele. Mit ihrem Ehemann, dem Kunstprofessor Giuseppe Minardo, einem gebürtigen Sizilianer, flüchtete sie vor den herannahenden Alliierten nach Ostpreußen. Doch die Sicherheit war nur von kurzer Dauer, wieder floh sie, diesmal vor der Roten Armee, mit Mann und dem kleinen Sohn nach Italien zurück. Auf der Flucht wurde Sohn Giovanni Opfer eines Beschusses durch alliierte Tiefflieger, auf dem weiteren Marsch nach Rom waren die Flüchtlinge den Untaten von Partisanen ausgesetzt.

Das Leben in Rom war alles andere als erträglich. Räumliche Enge und die ständige Anwesenheit der sizilianischen Familie ihres Mannes brachten zusätzliche Sorgen. Am Ende von psychischem Terror und physischer Bedrohung trennte sich Vera Macht von Giuseppe Minardo. Um zu überleben, kopierte und verkaufte Vera Macht die Bilder alter Meister und berühmter Maler, produzierte Miniaturen, meist nachts, wenn die Kinder schliefen. Geldmangel, oft aus betrügerischer Absicht der Käufer resultierend, war ständiger Gast der Familie. „Als einmal ein säumiger Zahler sein Versprechen nicht hielt und den Lohn schuldig blieb, gab es nichts zu essen,“, erinnert sich Olga Minardo, die jüngste Tochter. „Aber es war noch etwas Reis vorhanden. Also gab es gekochten Reis, aber nicht am Tisch, sondern wir Kinder mussten im Schneidersitz auf dem Teppich sitzen, den Reis mit Stäbchen essen, während unsere Mutter auf dem Klavier dazu Beethoven spielte.“

Vera Macht liebte Beethoven. Sie spielte und malte ihn. Ihr letztes Bild von ihm zeigt einen ernst, fast zornig blickenden Komponisten.

Mit Vera Macht ging nicht nur eine fürsorgliche, großartige Mutter und eine talentierte Künstlerin verloren. Vera Macht war eine der wenigen Zeitzeuginnen mit einem unerhört präzisen Gedächtnis. Jahreszahlen, Ereignisse, Namen sowie bedeutende wie unbedeutende Erlebnisse konnte sie exakt wiedergeben. Vielen schlecht oder nachlässig recherchierten Berichten und Artikeln in Medien widersprach sie in Leserbriefen vehement. Besonders scharf kritisierte sie immer wieder die Art und Weise, wie in Polen über die deutsche Vergangenheit in den Oder-Neiße-Gebieten geschrieben und berichtet wird, und rügte die „unterwürfige“ Haltung der deutschen Bundesregierung dazu.