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27.11.20 / Deutsche geschichte / Prostken ist überall / Anhand der Figur eines Eisenbahners schildert Arno Surminski einschneidende Jahre

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 48 vom 27. November 2020

Deutsche geschichte
Prostken ist überall
Anhand der Figur eines Eisenbahners schildert Arno Surminski einschneidende Jahre
Klaus Weigelt

Arno Surminski wird mit dem Thema des historischen Wahnsinns, der Gewalt und des Krieges nicht fertig. Es ist sein Lebensthema. In dem Antikriegsroman „Der lange Weg“ stellte der Autor das Thema des Russlandfeldzugs Napoleons 1812/13 in die historische Distanz und erlaubt dem Leser eine die eigene Existenz nicht berührende, beobachtende Sicht.

In seinem neuen Roman „Irgendwo ist Prostken“ (siehe auch die Besprechung vom 21. August) wird diese Distanz aufgehoben: Der Geschichtsverlauf vom Ersten Weltkrieg über die Weimarer Zeit und den Sieg der braunen Bewegung und des Antisemitismus bis zum Zweiten Weltkrieg, dem Hauptteil des Buches mit allen Schrecken und Verbrechen bis zum Niedergang, geht den Leser unmittelbar etwas an – je weiter die Geschichte vorrückt, umso mehr.

Die Personalisierung dieser Geschichte in dem Erleben und Handeln des Lokführers Wilhelm Bubat rückt die eigene Haltung mehr und mehr ins Zentrum: Der Leser kann nicht neutral bleiben, er wird zur Positionierung veranlasst. Wer Bubat für seine Entscheidungen oder Nichtentscheidungen, für seine Neutralität oder sein Wegducken kritisiert, muss sagen, wie er in seiner Situation gehandelt, geredet, gedacht hätte. So ist Prostken nicht irgendwo, sondern überall.

Bubat ist pflichterfüllender Preuße, der wie alle Deutschen schuldig wird, ohne dass er selbst aktiv an Verbrechen beteiligt ist. Aber seine Züge sind überall mittelbar beteiligt, sie sind Instrumente der Logistik, wo auch immer die Transporte von Menschen, Nahrungsmitteln, Energie (Kohle) und Material aller Art, vor allem für den Krieg, ihr Ziel haben.

Die befehlenden Herren, die Verantwortlichen, kommen nur selten in den Blick – der Kaiser, der Reichspräsident, der Führer – und so fühlen sich die Pflichterfüllenden, wie Bubat, zunehmend verlassen, aber schuldig, versuchen, sich zu entziehen, was nicht immer gelingt, auch nicht als Flucht in eine längere Krankheit.

Prostken ist überall, wo das Buch heute gelesen wird. Es erzählt die Tragik der deutschen Geschichte: das Verschwinden des Kaisers und seines Reiches, Inflation, Lebensunfähigkeit der Weimarer Republik und Vordringen der braunen Flut, Größenwahn und Niedergang des NS-Reiches und die SS-Verbrechen im Osten Europas.

Die grausamen Stationen für Bubat sind Rumbula bei Riga, Maly Trostenez bei Minsk, Auschwitz und Birkenau. Dazu kommen Sachsenhausen, Theresienstadt, Stutthof. Der Lokführer durchfährt mitten im Krieg die ganze osteuropäische Topografie des NS-Terrors, an dem die Eisenbahn mit drei Millionen transportierten Opfern, vor allem Juden, beteiligt ist.

Aber er sieht auch den Bombenterror der Alliierten in Lübeck, Hamburg, Königsberg und Dresden. In Rumbula sieht er fröhliche Kinder aus dem Zug steigen, die sich sogleich an dem frischen Schnee erfreuen, ehe sie mit ihren Müttern von der SS am Waldrand erschossen werden. Vor Hamburg muss im Sommer 1943 der Zug einer Kinderlandverschickung halten. Die aus dem Harz kommenden fröhlichen Kinder sehen das brennende Hamburg und warten vor der Stadt auf ihre Mütter, viele vergeblich. 

Surminski erzählt in seinem Roman als Rahmenhandlung die Geschichte der Familie Bubat, deren Sohn Werner an der Ostfront steht. Der Wohnsitz wird nach Posen verlegt, die Hauptstadt des Warthegau, um dem ostpreußischen Prostken näher zu sein. Dort verbringt man auch das letzte Weihnachtsfest 1944, ehe man gerade noch im Januar 1945 vor der heranrückenden Ostfront nach Posen zurückkehrt und von dort wieder nach Hamburg zieht, kurz bevor die Rote Armee Posen erreicht.

Der Roman enthält sehr viel gut recherchierte Eisenbahngeschichte, die zur Auflockerung der Erzählung beiträgt und dem Leser viel Wissenswertes vermittelt. Dem Lokführer Bubat stellt Surminski den Heizer Piontek an die Seite, einen der polnischen Sprache mächtigen Oberschlesier aus Kattowitz, der viel Witz und Ironie in die Ereignisse einbringt, dem aber auch angesichts der Grausamkeiten das Lachen vergeht und der sich rechtzeitig absetzt, als er erkennt, dass man bald mit Polnisch weiterkommen wird als mit Deutsch.

Die Schuldfrage wird in dem Kapitel „Die Vernehmung“ kurz vor der Pensionierung von Bubat durch drei gut gekleidete Herren, von denen der eine in Frankreich, der zweite in Italien und der dritte bereits im Ruhestand war, als die Schrecken über Osteuropa zogen, nicht geklärt. Sie konfrontieren Bubat mit dem Vorwurf, dass ohne das Mitwirken von Eisenbahnern die Transporte und die Ermordung der europäischen Juden nicht möglich gewesen wären.

Bubat denkt an seinen schon 1933 entlassenen Kollegen Rosenbaum und an Rumbula, schüttelt den Kopf und entgegnet: „Wer das sagt, weiß nichts von der Eisenbahn und den Zuständen in jener Zeit.“ Dennoch weiß er, dass er immer das Gefühl hatte, mit schmutzigen Händen nach Hause zu kommen. „Er konnte waschen, so viel er wollte, das Schmutzgefühl wollte nicht weichen.“

Die Meta-Tragik der Schuldfrage besteht darin, dass die hintergründigen Schilderungen Surminskis den oberflächlichen modernen Otto Normal-Deutschen der Corona-geschwächten Spaßgesellschaft kaum erreicht. Wer macht sich heute schon solche Gedanken über die deutsche Geschichte wie Surminski oder sein Gewährsmann Bubat?

Aber auch wer diese Tiefen nicht erreicht, lernt von Surminskis Lokführer in den 101 Kapiteln des Buches viel über drei Jahrzehnte deutsche Geschichte und über die Entwicklung des Bahnwesens in dieser Zeit. Zudem lenkt der Autor wie immer den Blick kontinuierlich auf deutsche Landschaften, die heute, gerade im 30. Jahr der deutschen Vereinigung längst der deutschen Geschichtsvergessenheit anheimgefallen sind: vor allem Ostpreußen mit seiner weiten Schönheit, aber auch der „polnische Korridor“ in den 1920er und 1930er Jahren, Pionteks Oberschlesien und die von den Nationalsozialisten  geschändeten Regionen Litauens, Weißrusslands, der Ukraine und Polens.

Wer Surminski und seine Bücher kennt, weiß, dass sich hinter seinem oft trockenen Erzählstil des Berichts, der Schilderung, der lakonischen, manchmal ironischen Kommentierung, der distanzierten Betrachtung immer auch eine erkennbar betroffene Anteilnahme verbirgt, die seine Bücher und insbesondere dieses Buch seines Lokführers auszeichnet. Ein großes Buch eines großen Autors!

Arno Surminski: „Irgendwo ist Prostken. Roman eines masurischen Lokführers“, Langen-Müller Verlag, München 2020, gebunden, 384 Seiten, 24 Euro