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04.12.20 / Klassiker der Nachkriegszeit / Zettel’s verkürzter Traum / Frischluftzufuhr für angestrengte Leser – Ein Lesebuch führt in das 1300-seitige Hauptwerk von Arno Schmidt ein. Es soll dem „zögernden Leser Mut machen“, sich auf ein Leseabenteuer einzulassen

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 49 vom 04. Dezember 2020

Klassiker der Nachkriegszeit
Zettel’s verkürzter Traum
Frischluftzufuhr für angestrengte Leser – Ein Lesebuch führt in das 1300-seitige Hauptwerk von Arno Schmidt ein. Es soll dem „zögernden Leser Mut machen“, sich auf ein Leseabenteuer einzulassen
Harald Tews

Bei manchen Büchern kommt man sich vor wie der Ochs vorm Berg. Man weiß einfach nicht weiter. Arno Schmidts Mammutwerk „Zettel’s Traum“ ist solch ein Solitär in der literarischen Landschaft, ein Achttausender, den man gerne bezwingen möchte, aber bei dem einem schon nach wenigen Seiten die Luft ausgeht.

Eine Art Sauerstoffgerät für Leser, die unbedingt einmal einen Blick vom Schmidt-Gipfel erhaschen wollen, hat nun Bernd Rauschenbach von der Arno-Schmidt-Stiftung herausgebracht. Sein Lesebuch „Arno Schmidts Zettel’s Traum“ führt einen etappenweise voran. Aus jedem der acht Kapitel des Riesenwerks finden sich auszugsweise Appetithäppchen, denen eine kurze Gourmetanleitung vorangestellt ist, die sich mehr oder weniger auf die Handlung beschränkt. 

Handlung? Eigentlich passiert auf diesen 1300 Seiten („Zetteln“ laut Schmidt) des vor 50 Jahren im originalen Schmidtschen DIN-A3-Manuskriptformat erschienenen Werkes nicht viel. Erzählt wird von einem Treffen von vier Personen, ihren Spaziergängen und Gesprächen in der südöstlichen Lüneburger Heide – dort in Bargfeld bei Celle lebte auch Schmidt zurückgezogen bis zu seinem Tod 1979. Als Orientierungshilfe sind diese Handlungseinführungen aber durchaus brauchbar.

Sie helfen aber nicht, dem Leser den Schrecken vor Schmidts eigenwilliger Interpunktion, den an seinem irischen Schriftstellervorbild James Joyce geschulten Wortspielen oder der phonetischen Umsetzung gesprochener Sprache zu nehmen. Ganz zu schweigen von seiner in „Zettel’s Traum“ – der Titel ist nicht nur ein Zitat aus Shakespeares „Sommernachtstraum“, sondern auch eine Anspielung auf die Zettelkästen in Schmidts Ein-Mann-Schreibwerkstatt – ausgebreiteten „Etym-Theorie“, mit der er in Freudscher Manier Wortursprünge humoristisch auf die Analyse-Couch legt, sowie seiner extravaganten Auseinandersetzung mit Edgar Allan Poe, die als Literaturtheorie „Zettel’s Traum“ zugrunde liegt.

Daneben muss man eine ordentliche Portion Allgemeinwissen aufbringen für Sätze wie diesen: „mußDe åuch noch groß=frag’n : ›wieso Die id Schuppm dort verschwandn?‹ / (›Die Welt als WìllLust & Vèrstellunc‹ ...).“ Dabei weckt ein schnodderig gesprochener „Schuppen“ die Assoziation an Schopenhauer und mündet in eine erotisierte Verballhornung des Titels seines philosophischen Hauptwerks.

Neben einem Lesebuch wäre ein eigener Anmerkungsband zu „Zettel’s Traum“ fällig. Die Arbeit daran würde wohl Jahrzehnte dauern. Immerhin hat Schmidt selbst Randglossen in sein Hauptwerk eingefügt. Sein DIN-A3-Typoskript umfasst drei Spalten, wobei die mittlere Hauptspalte die eigentliche „Handlung“ wiedergibt. Links und rechts davon finden sich Schmidts Anmerkungen. In Rauschenbachs Kurzfassung von „Zettel’s Traum“ entfällt diese Aufteilung. Einige der rechten Randbemerkungen sind im kleineren Schriftgrad in den Haupttext integriert. Damit kann man gut leben. 

Das Lesebuch setzt die Bemühungen einer leserfreundlichen „Zettel’s Traum“-Ausgabe fort. Waren lange Zeit nur großformatige Faksimile-Fassungen des Typoskripts mit allen Fehlern und Korrekturen Schmidts auf dem Markt, so erschien 2010 bei Suhrkamp erstmals eine Ausgabe in gesetzter Form (aktuell kostet sie 348 Euro). Das kleine Lesebuch will laut Einleitung „dem noch zögernden Leser Mut machen, sich dem Lektüre-Erlebnis auf kurze Zeit auszusetzen“. Es dient sicher auch als Werbung für den mit viel Aufwand edierten Riesenkoloss von Suhrkamp.

Da aus dem Nachlass Schmidts bereits jeder Rest veröffentlicht ist, nutzt man jede Möglichkeit, um Schmidt weiter zu vermarkten. Positiv ausgedrückt heißt das aber auch, dass dieses Lesebuch uns einen der größten deutschen Nachkriegsautoren in Erinnerung ruft. Wem „Zettel’s Traum“ eine zu harte Nuss ist, dem seien Schmidts frühe Prosawerke wie „Die Umsiedler“ empfohlen, in denen er seine Erfahrungen als Flüchtling nach 1945 noch lesbar thematisiert hat.

Bernd Rauschenbach (Hg.): „Arno Schmidts Zettel’s Traum. Ein Lesebuch“, Arno Schmidt Stiftung im Suhrkamp Verlag, Bargfeld 2020, Klappenbroschur, 232 Seiten, 25 Euro