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11.12.20 / Das süße Gift der Bevormundung / Schon moderne Klassiker wie Alexis de Tocqueville, Pierre-Joseph Proudhon und Aldous Huxley warnten vor den Gefahren eines fürsorglichen demokratischen Staates, der den Bürgern Stück für Stück ihre Freiheiten nimmt. Heute erinnern sie daran, dem Staat umso skeptischer zu begegnen, je mehr er vorgibt, die Bürger vor Unheil bewahren zu wollen

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 50 vom 11. Dezember 2020

Das süße Gift der Bevormundung
Schon moderne Klassiker wie Alexis de Tocqueville, Pierre-Joseph Proudhon und Aldous Huxley warnten vor den Gefahren eines fürsorglichen demokratischen Staates, der den Bürgern Stück für Stück ihre Freiheiten nimmt. Heute erinnern sie daran, dem Staat umso skeptischer zu begegnen, je mehr er vorgibt, die Bürger vor Unheil bewahren zu wollen
Eberhard Straub

Alexis de Tocqueville war einer der größten Historiker und Soziologen im 19. Jahrhundert. Unerschöpflich sind bis heute seine Studien zur Demokratie in Amerika, die zwischen 1830 und 1840 erschienen sind. Gänzlich unaufgeregt untersucht Tocqueville darin die Vor- und Nachteile der Demokratie, die unabhängig von den USA überall mit dieser Staatsform verbunden sind. Dabei kommt er unter anderem auf die Gefahr zu sprechen, die in dem Prinzip der Gleichheit und der absoluten Herrschaft der Mehrheit angelegt ist: wie nämlich unter bestimmten Voraussetzungen die Demokratie in eine ganz neuartige Despotie umschlagen könne, die sich von der klassischen Tyrannis und Diktatur oder dem napoleonischen Cäsarismus kaum unterscheiden werde. Den leidenschaftlichen Freund der Freiheit Tocqueville bekümmerte es, dass Demokratisierung nicht unbedingt zu mehr Freiheit führen müsse, sondern einem ungeahnten Staatsabsolutismus den Weg ebnen könne, der nicht gewalttätig, sondern mit betreuender Fürsorglichkeit allmählich alles selbstständige Leben ersticke. 

Gesellschaft ohne Leidenschaft

Alexis de Tocqueville analysierte eine bürgerliche Gesellschaft, die keine großen Leidenschaften und öffentlichen Tugenden mehr kennt. Demokratische Bürger begnügen sich vielmehr – unter dem Postulat der Gleichheit der Lebensverhältnisse und des Denkens – behaglich mit der Sättigung kleiner Launen und sanfter Wünsche als Konsument und Sozialpartner. Wenn die einzige politische Leidenschaft sich in der Liebe zur öffentlichen Ruhe erschöpft, weil sie vor materieller Unordnung schützt, der dauernden Furcht demokratischer Gesellschaften, dann allerdings müsse sich die staatliche Macht zur Omnipotenz erweitern, eben um stetiges Wachstum, emsigen Verbrauch und stabile Gesundheit gewährleisten zu können. Solche demokratischen Gesellschaften begnügen sich mit kleinen, allerdings vernünftigen Absichten. 

Die demokratischen Bürger zwingen ihre ganze Seelenkraft dazu, mittelmäßige Dinge zu tun, sie kennen viele Streber, aber wenig großes Streben. „Ein Mann, der Stufe um Stufe sich zu Reichtum und Macht aufschwingt, gewöhnt sich in langer Arbeit an Vorsicht und Zurückhaltung, von der er sich später nicht frei machen kann. Man erweitert seine Seele nicht nach und nach wie sein Haus“, so Tocqueville. In einer solchen Atmosphäre verkümmern unweigerlich die Einbildungskraft und die Lust, außerordentliche Dinge zu tun; dafür befindet sich die Gesellschaft in dem einschläfernden Glück, das ihre Beschützer und Helfer ihr ermöglichen: 

„Ich will mir vorstellen, unter welchen neuen Merkmalen der Despotismus in der Welt auftreten könne: Ich erblicke eine Menge einander ähnlicher und gleichgestellter Menschen, die sich rastlos im Kreise drehen… Über diesen erhebt sich eine gewaltige, bevormundende Macht, die allein dafür sorgt, ihre Genüsse zu sichern und ihr Schicksal zu überwachen. Sie ist unumschränkt, ins Einzelne gehend, regelmäßig, vorsorglich und mild… Sie arbeitet gern für deren Wohl; sie will aber dessen alleiniger Betreuer und einziger Richter sein; sie sorgt für ihre Sicherheit, ermisst und sichert ihren Bedarf, erleichtert ihre Vergnügungen, führt ihre wichtigsten Geschäfte, lenkt ihre Industrie, ordnet ihre Erbschaften, teilt ihren Nachlass; könnte sie ihnen nicht auch die Sorge des Nachdenkens und die Mühe des Lebens ganz abnehmen?“ 

„Auf diese Weise“, so Tocqueville, „macht sie den Gebrauch des freien Willens mit jedem Tag wertloser und seltener…, und schließlich entzieht sie jedem Bürger sogar die Verfügung über sich selbst.“ Dieser geregelten und friedsamen Knechtschaft fügen sich die Betreuten willig, darüber erleichtert, gelenkt zu werden und als Herde ängstlicher und arbeitsamer Willenloser einem treuen Hirten folgen zu dürfen, der mit Vollmachten ausgestattet ist, von denen kein absolutistischer Monarch je zu träumen gewagt hätte. Tocquevilles Bild einer möglichen, sanft auftretenden, aber totalen Interventionsmacht entspricht weitgehend der „neuen Normalität“, von der heute viel die Rede ist unter den Regierenden und deren Tonverstärkern in den Medien. Beiden geht es um Meinungsführerschaft und Erziehung zu einem homogenisierten Verhalten wahrhafter und wehrhafter Demokraten, das vor den Gefahren der Meinungsvielfalt und des Pluralismus schützt, die schon die revolutionären Demokraten seit 1789 in Schrecken versetzten. 

Der liberale Aristokrat Tocqueville fürchtete diese Tyrannei der Mehrheit, die jeden verdächtig macht, der abweicht von dem, was sie verlangt in Übereinstimmung mit der Regierung und des Allgemeinwohls. Das nicht immer leicht zu durchschauende Zusammenspiel der Kräfte im System der herrschenden Mehrheit erlaubt es den systemrelevanten Ordnungshelfern, sich ohne offene Brutalität und Gewalt ihrer Gegner, als Feinde begriffen, zu entledigen. Die Meinungsführer und ihre Regierungen haben den Despotismus vervollkommnet, der doch scheinbar nichts mehr zu lernen hatte. 

Der neue Despot zielt nicht auf den Körper, sondern auf die Seele: „Du bist frei, nicht so zu denken, wie ich; du behältst dein Leben, deinen Besitz, alles; aber von dem Tage an bist du unter uns ein Fremdling… Du bleibst unter den Menschen, aber du büßt deine Menschlichkeit ein. Näherst du dich deinen Mitmenschen, werden sie dich wie ein unreines Wesen fliehen… Ziehe hin in Frieden, ich lasse dir das Leben, es wird aber für dich schlimmer sein als der Tod“. 

Der wohlmeinende Überwachungsstaat

Ein anderer leidenschaftlicher Freund der Freiheit, jetzt von links, Pierre-Joseph Proudhon, verzweifelte unter der ausgreifenden Tätigkeit des modernen, sich demokratisierenden  Überwachungsstaats, der sich in alles einmischt und auch in die Privatheit aggressiv eindringt. Regiert zu werden, das hieß für ihn, bei jeder Handlung, jedem Geschäft beobachtet, erfasst, beurteilt, eingeschätzt, ermahnt, korrigiert zu werden und im Namen des Gemeinwohls bedrückt, bevormundet, bedrängt, verbessert, getadelt, diffamiert, kriminalisiert, endlich bestraft, festgesetzt, entehrt und immer und überall belogen zu werden. Das ist die Gerechtigkeit und Moral des Systems, das seinen eigenen Nutzen mit dem allgemeinen Wohl verwechselt und mit allen möglichen Gemeinheiten vor Kontrollen absichert. 

Tocqueville als vornehmer Herr und alter Aristokrat warnte und sprach von fürchterlichen Möglichkeiten, die bei besonnener Umsicht aufgehalten oder verhindert werden könnten. Proudhon wurde zuweilen vollkommen erschlagen von der schrecklichen Zukunft, die unvermeidlich jede Freiheit vernichten werde. Beide waren sich freilich darin einig, in der kommenden wackeren, neuen Welt mit grässlichen Überraschungen rechnen zu müssen. Die sogenannte „neue Normalität“ wurde von ihnen nicht frohgemut als kühnes soziales Experiment und als Chance für eine umfassende Transformation im „Projekt der Moderne“ erwartet, sondern gefürchtet. 

Auch in der „schönen neuen Welt“ des Aldous Huxley, in der wie in dem dystopischen Roman Jewgenij Samjatins alle nur noch ein großes „Wir“ sind – genormt, behütet und beaufsichtigt von Beschützern, den Aufsichtsräten unseres totalen Glücks in totaler Selbstvergessenheit –, wird die Freiheit nicht mehr vermisst. Sie ist überholt wie die Vergangenheit, in der sie nur irritierende Unberechenbarkeiten bewirkte. Die Freiheit wird ersetzt durch das Behagen, das innigste Überreinstimmung mit dem Gesellschaftsplan gewährt, ehedem Volksgemeinschaft genannt. In ihr darf jeder tun, was er soll. Alle finden, in dauernder Unreife und Angst gehalten, zu ihrer wahren Bestimmung, im großen Ganzen geborgen zu sein. Die moralische Idee erschöpft sich in dem physischen Wohlstand für alle, in der Pflicht zur Gesundheit, Jugend und Frische. Der Sinn des Daseins liegt im funktionierenden Wohlbefinden des sozialen Organismus und seiner Zellen. Das Leben ist der Güter höchstes geworden. 

Liebevolle Heilsgemeinschaft

Im Namen des Lebens und der Gesundheit jenseits von Freiheit und Würde soll jeder sein Ich auslöschen in einer stillen und nachhaltigen Selbstentwürdigung ohne Qualen, die es endlich ermöglicht, dass die so Enteigneten ihren beharrlich überredenden Enteigner lieben, ihm danken und sich hingebungsvoll seinem wohlmeinenden Plan einfügen. Nur diese Liebe, die einzig geduldete, ja erwünschte, weil das Ich vergesellschaftend, ist in der schönen, neuen Welt noch zugelassen. 

Die Gesellschaft als liebevolle Heilsgemeinschaft dient dem neuen wahren Gott, dem Leben. Ihre Kirche ist das Gesundheitssystem, in dem der Arzt als Heiland Wunder wirkt und alles heilt, was wund ist. Er ersetzt Priester und Philosophen in Eintracht mit der Regierung, die wachsam das öffentliche Glück stabilisiert und gegebenenfalls in brennender Sorge zu drastischen Maßnahmen greifen muss, um die geistige und körperliche Gesundheit biederer Demokraten und Menschen vor bösen Anschlägen zu bewahren. 

Der demokratische Staat entfernt sich unter solchen Absichten vom herkömmlichen Rechtsstaat und wandelt sich zu einer für den Bürger heilsnotwendigen Zwangsanstalt, die dafür sorgt, jeden vor Unheil zu bewahren, der möglicherweise sein Leben verkürzt und sein Glück mindert. Doch überschreitet er mit solchen Ansprüchen weit seine Befugnisse, und es ist daher geboten, ihn im Sinne Tocquevilles, Proudhons oder Huxleys in seine Schranken zu verweisen. Wo ein neues Gottesgnadentum gebastelt wird mit dem nackten Leben als Gott, sei daran erinnert, dass es durch die Jahrtausende hieß, dass das sterbliche Leben nicht der Güter höchstes ist. Und dass der Staat kein rettender Leibwächter ist – auch wenn er sich dreist eine heilige Majestät verschaffen möchte, die freilich nur eine ganz unheilige, despotische sein kann –, da er nicht dazu eingesetzt worden ist, als Glaubens- und Schwurgemeinschaft Körper und Seele gesund zu machen.






Dr. Eberhard Straub ist Historiker und Publizist. Zu seinen Werken gehören u.a. „Zur Tyrannei der Werte“ (2010) und „Der Wiener Kongress. Das große Fest und die Neu-

ordnung Europas“ (2014, beide Klett-Cotta). www.eberhard-straub.de