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11.12.20 / Leitartikel / Halbierte Erinnerung

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 50 vom 11. Dezember 2020

Leitartikel
Halbierte Erinnerung
René Nehring

Die Partnerschaft zwischen Deutschland und Polen ist eine wichtige Voraussetzung für eine erfolgreiche Zukunft. Aber wir werden auch die Vergangenheit nicht vergessen. Nicht das Leid der Menschen in Polen, nicht den historischen Mut zur Versöhnung und auch nicht einen Kniefall, der uns an all das erinnert.“ 

Mit diesen Worten endete eine am Montag ausgestrahlte Videobotschaft von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier zum 50. Jahrestag des Kniefalls Willy Brandts vor dem Ehrenmal für die Toten des Warschauer Ghettos am 7. Dezember 1970. Eingeleitet hatte Steinmeier seine Botschaft mit den Worten: „Als der deutsche Bundeskanzler damals nach Warschau kam, waren die Wunden der Vergangenheit noch frisch: Der Überfall auf Polen, der mit entsetzlicher Grausamkeit von Deutschland geführte Vernichtungskrieg, der Terror und die polnischen Opfer der deutschen Besatzung, der Völkermord an den Juden. Auch Flucht und Vertreibung der deutschen Zivilbevölkerung lasteten auf den Beziehungen.“ Immerhin erwähnte der Bundespräsident die deutschen Opfer des Zweiten Weltkriegs noch am Rande. 

Auch Außenminister Heiko Maas widmete sich gegenüber der dpa Brandts Kniefall und wertete diesen als „eine stille und demütige Bitte um Vergebung für die abscheulichen Verbrechen des nationalsozialistischen Deutschlands in Polen“ und versprach: „Wir Deutschen werden dabei niemals vergessen, welche Überwindung es für Polen und die Nachfahren der Millionen Opfer bis heute bedeuten muss, Willy Brandts stille und demütige Bitte um Vergebung anzunehmen.“ Für die eigenen Landsleute fand der Außenminister keine Worte des Gedenkens. 

Mit ihrer Fokussierung auf den Kniefall Willy Brandts reduzieren die beiden Repräsentanten der Bundesrepublik Deutschland einen der großen Wendepunkte der deutschen Nachkriegs­geschichte auf die – durchaus bewegende – Geste eines Parteifreunds. Kein Wort bei Steinmeier und Maas über den eigentlichen Anlass der Reise des damaligen Bundeskanzlers in die polnische Hauptstadt – nämlich die Unterzeichnung des Warschauer Vertrags, der nicht zuletzt die Anerkennung der Oder-Neiße-Linie als Westgrenze Polens bedeutete. Kein Wort davon, dass Deutschland damals – die durch den Zweiten Weltkrieg geschaffenen Realitäten anerkennend – faktisch auf ein Viertel seines Staatsgebietes verzichtete. Kein Wort von den großen Schicksalsfragen, um die in jenen fernen Tagen gerungen wurde – und auch kein Wort davon, wer den deutschen Heimatvertriebenen ihr Leid angetan hatte. 

Ein Sprichwort besagt: „Eine halbe Wahrheit ist eine ganze Lüge.“ Was dies bezogen auf eine halbierte Erinnerung bedeutet, mag sich jeder selbst erschließen. 

Dass die offenkundige Schieflage in der deutsch-polnischen Gedenkkultur keinesfalls nur ein historisches Problem ist, zeigen die wiederholten Reparationsforderungen Polens an Deutschland in den letzten Jahren. Dabei listet der östliche Nachbar und Bündnispartner der Bundesrepublik regelmäßig seine während des Krieges erlittenen Verluste an Menschen und Sachwerten auf – und lässt dabei konsequent beiseite, dass der polnische Staat durch die Grenzverschiebungen nach Kriegsende mehrere Zugänge zum Meer, fruchtbare Agrarflächen, das Kohle- und Industrierevier in Oberschlesien und vieles mehr erhalten hat, deren Wert die geforderte Reparationssumme weit überschreitet. Dass auch Polen vor, während und nach dem Zweiten Weltkrieg tausendfach zu Tätern wurden, findet heute praktisch keine Erwähnung mehr. 

1965 schrieben die polnischen Bischöfe an ihre deutschen Amtsbrüder den großen Satz: „Wir vergeben und bitten um Vergebung.“ Damals war man in der deutsch-polnischen Erinnerungskultur offenkundig weiter als im Jahre 2020.