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11.12.20 / Erlebnisbericht / Doppelte Flucht einer ostpreußischen Familie / Lebhaft schildert Gerhard Gries seine Erinnerungen an den überstürzten Aufbruch aus der Heimat und den Neubeginn im Westen

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 50 vom 11. Dezember 2020

Erlebnisbericht
Doppelte Flucht einer ostpreußischen Familie
Lebhaft schildert Gerhard Gries seine Erinnerungen an den überstürzten Aufbruch aus der Heimat und den Neubeginn im Westen
Dagmar Jestrzemski

Gerhard Gries aus Schopfheim im Südschwarzwald hat nach 77 Jahren seine Kindheits- und Jugenderinnerungen aufgeschrieben und als Buch drucken lassen. „Meine Lebenserinnerungen von 1939–1952“ lautet der Titel des mit Fotos, Karten und Zeitdokumenten ausgestatteten schmalen Bandes. 

Eingangs berichtet der 1935 in Allenstein geborene Autor über die nicht gerade einfachen äußeren Lebensumstände seiner Familie mit sieben Kindern und seine Kinderlandverschickung im Jahr 1943. Nachdem ihr Haus im Januar 1945 durch eine Bombenexplosion unbewohnbar geworden war, musste die Mutter mit ihren vier jüngeren Kindern überstürzt die Flucht aus Allenstein antreten. Es war wohl ihre Rettung in letzter Minute. 

Mit einem Soldatentross gelangten sie bei klirrender Kälte nach Pillau. Unterwegs sah Gerhard erfrorene Kinder in den kleinen Wagen und verzweifelte Mütter, die den Wagen an den Straßenrand schoben und stehen ließen, um das eigene Leben zu retten. Mit viel Glück – da es der Familie wegen der beiden älteren Schwestern, die die Altersgrenze von 15 Jahren überschritten hatten, eigentlich nicht erlaubt war, an Bord des KdF-Schiffs „Der Deutsche“ zu gehen – kamen sie auf dem Seeweg weiter. In Gotenhafen bestiegen sie am nächsten Tag ein überbesetztes und anscheinend reparaturbedürftiges Lazarett- und Flüchtlingstransportschiff. Fünf Tage lag das Schiff mit den von Angst gepeinigten Menschen in der Pommerschen Bucht, ehe es den Zielhafen Swinemünde ansteuerte. Von dort fuhren sie in heillos überfüllten Zügen über Berlin zum unterfränkischen Ort Mellrichstadt. In der benachbarten thüringischen Gemeinde Schwickershausen wohnten ihre Verwandten. Gegen Mithilfe bei der landwirtschaftlichen Arbeit wurde ihnen eine Wohnung bei einem Bauern zugewiesen, und es gab für alle endlich wieder genug zu essen. 

Lebhaft erinnert sich Gries an die Ankunft der Amerikaner kurz vor Kriegsende. Nach deren Abzug und der Ankunft der Russen hatte das unbehelligte Dasein der Dorfbewohner jedoch ein Ende. Die russischen Soldaten begannen mit dem Bau der Grenzabsperrung unmittelbar westlich vom Dorf. 

Da die Mutter mit den Kindern nach Schleswig-Holstein weiterreisen wollte, wurde ein Plan ersonnen, um unbemerkt die Zonengrenze zu überqueren. Sie wollten nach Büsum, wo der Vater nach seiner Entlassung aus englischer Kriegsgefangenschaft lebte. Im September 1946 war die Familie in Büsum endlich wieder vereint. Gerhards 19-jähriger Bruder Bernhard war jedoch am 16. April 1945 nahe Erlangen bei den sinnlosen Abwehrkämpfen gestorben. 1950 verstarb auch sein Vater an den Spätfolgen einer Kriegsverletzung. An der Nordseeküste wäre Gerhard dennoch gern geblieben. Er war im Sportverein und begann 1950 nach seinem Schulabschluss eine Ausbildung zum Tischler auf einer Werft. Die Mutter sah jedoch keine Zukunft für ihre Familie „im armen Land Schleswig-Holstein mit reichen Bauern“. Sie nutzte das Angebot einer Umsiedlung von Flüchtlingen nach Süddeutschland und beharrte darauf, dass ihr Sohn die vier Frauen begleiten sollte. 

So kamen sie nach Fahrnau, eine landwirtschaftlich geprägte Gemeinde im Landkreis Lörrach, die 1971 in die Stadt Schopfheim eingemeindet wurde. Hier bezogen sie eine Wohnung in einem Neubau für zwölf Flüchtlingsfamilien. Mit einem Kurzbericht von seinem ersten Heimatbesuch in Allenstein im Jahr 1974 endet der Rückblick von Gerhard Gries.

Gerhard Gries: „Meine Lebenserinnerungen 1939 – 1952“, Eigenverlag, erschienen 2019, gebunden, 100 Seiten, 14 Euro einschl. Versandkosten, bestellbar bei G. Gries, 79650 Schopfheim, Friedenstraße 5