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18.12.20 / Mitte der Stadt / Unabhängig von der Mitgliedschaft in den Kirchen ist die Bindung der Menschen an die Kirchgebäude ihres Ortes ungebrochen hoch. Bei deren Erhaltung hilft eine besondere Stiftung

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 51/52 vom 18. Dezember 2020

Mitte der Stadt
Unabhängig von der Mitgliedschaft in den Kirchen ist die Bindung der Menschen an die Kirchgebäude ihres Ortes ungebrochen hoch. Bei deren Erhaltung hilft eine besondere Stiftung
Johann Hinrich Claussen

Es ist nicht leicht zu sagen, ob es schwerer ist, eine Kirche zu retten oder sie zu nutzen. In den neuen Bundesländern sind nach der Wiedervereinigung ungezählte Rettungsgeschichten geschrieben worden. Vor allem auf dem Land wurden von kirchlich-nichtkirchlichen Vereinen in beeindruckenden Anstrengungen Dorfkirchen vor dem Verfall bewahrt. Vielerorts aber tritt nun die Generation der Kirchenretter ab, und die Frage stellt sich mit neuer Dringlichkeit, wie die wieder in Stand gesetzten Kirchen sinnvoll zu nutzen wären – und wer dafür die Verantwortung übernehmen könnte. Zugleich werden in vielen Gemeinden beide Fragen laut: Wie erhalten wir unser Kirchgebäude – und wozu eigentlich?

Mit beiden Fragen bin ich in meiner Arbeit regelmäßig konfrontiert. Ich kenne den Druck, den sie auslösen. Aber ich kenne auch schöne Einfälle und beglückende Erfahrungen. Zum einen engagiere ich mich in der „Kiba-Stiftung“, einer kirchennahen Stiftung zur Erhaltung kirchlicher Baudenkmäler – vor allem in Ostdeutschland. Zur groben Orientierung: Seit 1999 hat die Stiftung 920 Förderzusagen für Sanierungen mit einem Volumen von 23,6 Millionen Euro gegeben. Zum anderen führt das Kulturbüro des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) das – von der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien (BKM) geförderte – Projekt „Land:Gut“ durch, das Impulse zu einer kulturell inspirierten Nutzung von Kirchen setzt, von der das jeweilige Gemeinwesen insgesamt „profitiert“. Von beidem will ich hier an einem Beispiel erzählen.

Hilfreicher Lokalpatriotismus 

Dem will ich zweierlei vorausschicken. Gelernt habe ich bei diesem Thema, dass die möglichen Antworten für jeden Ort anders ausfallen müssen. Gesamtlösungen – gar von oben dekretiert – kann es nicht geben. Stattdessen sind ein genauer Blick auf die jeweiligen Verhältnisse gefragt und das gemeinsame Gespräch. Was gibt es hier? Wer lebt hier? Was könnten wir gemeinsam versuchen? Mit meinem Beispiel möchte ich auf eine Gruppe von Kirchen aufmerksam machen, die allzu oft übersehen werden: die Kleinstadtkirchen. Häufiger denkt man an idyllische Dorfkirchen, die einen besonders heimatlichen Reiz ausstrahlen und zur Identifikation einladen, wobei allerdings der Kreis der Menschen, die sich für sie einsetzen könnten, oft eng bemessen ist. Oder man interessiert sich für berühmte Symbolkirchen in großen Städten, die bundesweit Spender ansprechen, aber auch mit riesigen Erwartungen konfrontiert sind. Mindestens ebenso bedeutsam aber – religiös, kulturell und gesellschaftlich – sind die Kirchen in den kleinen Städten. Zum Beispiel St. Nikolai in Aken.

Aken ist eine ehemalige Schifferstadt an der mittleren Elbe, in Sachsen-Anhalt gelegen, unweit von Dessau. Wie viele Städte ihrer Größe kämpft sie mit dem Verlust an Infrastruktur, Industrie und Handel. Demographische Veränderungen tun ihr Übriges: Junge ziehen der Ausbildung oder Arbeit wegen fort, die Bevölkerung altert. Trotzdem ist hier nicht alles Verfall. In unmittelbarer Nähe befindet sich das „Biosphärenreservat Mittlere Elbe“, das von unvergleichlicher Schönheit ist und viele Touristen – vor allem Fahrradfahrer – anzieht. Mindestens so wichtig ist, dass es in Aken eine hohe Identifikation mit dem eigenen Heimatort und seiner Geschichte gibt. Auch wenn die letzte Werft längst geschlossen ist und der Binnenhafen keine Rolle mehr spielt, tragen so einige Akener auf der Straße noch ihre Schiffermütze. An einen solchen Lokalpatriotismus kann man anknüpfen.

Hier gibt es zwei Kirchen. Klassisch neben Rathaus und Schule gelegen ist die alte Stadtkirche St. Marien. Doch sie war so baufällig, dass die Kirchengemeinde sie schweren Herzens Anfang der 1990er an die Stadt abgeben musste. Man bedenke, dass in der evangelischen Landeskirche Mitteldeutschlands auf durchschnittlich 200 Kirchenglieder eine, zumeist unter Denkmalschutz stehende Kirche kommt. Da ist neben dem Schmerz auch die Erleichterung nachzuempfinden, wenn das politische Gemeinwesen bei manchen Bauten die Verantwortung übernimmt. 

St. Marien zu Aken wurde jedoch von der Stadt nicht nur gerettet, sondern wird von ihr auch auf beeindruckende Weise kulturell genutzt. Zum Beispiel finden hier regelmäßig erstklassige Konzerte statt.

Bestandteil der Stadtgesellschaft

Mit der Aufgabe der Stadtkirche wurde St. Nikolai zur eigentlichen Gemeindekirche. Das widersprach eigentlich ihrer Geschichte. Sie war als Stiftskirche etwas abseits vom Zentrum gebaut worden, nach der Reformation verfiel sie, bis die Reformierten sie übernahmen, nach der preußischen Kirchenunion war ihre Zukunft erneut fraglich, doch jetzt ist sie die einzige „richtige“ Kirche des Ortes. Die Identifikation vieler Gemeindeglieder mit ihr ist hoch. Gegen Ende der DDR haben sie bei ihrer Sanierung selbst mit Hand angelegt, an der Materialbeschaffung und den Bauarbeiten mitgewirkt. Das schafft Bindungen, wie man sie aus Westdeutschland nicht so kennt.

Aber Unterstützung von außen ist auch wichtig und willkommen. Hier kommt die „Kiba-Stiftung“ ins Spiel. Mit ihrer Expertise und ihren Fördergeldern kann sie Kirchensanierungen erfolgreich in Gang setzen. Das gesamte Vorhaben wird sie natürlich nie finanzieren, aber mit ihren Zuschüssen kann etwas begonnen und mit dem Gütesiegel „von der Kiba gefördert“ können andere Spender und Zuwendungsgeber angesprochen werden. So vermag aus vermeintlich Wenigem viel zu werden. In Aken war 2017 eine Unter-Stiftung der „Kiba“, die „Stiftung Orgelklang“, tätig. Denn als St. Marien abgegeben wurde, kam ihre Orgel – ein wunderbares Instrument von Ernst Röver aus dem Jahr 1900 – nach St. Nikolai, musste saniert und an den neuen Standort angepasst werden. Seither ist auch St. Nikolai ein Ort, der das musikalische Leben der Region bereichert und dabei wie von selbst Geistliches und Kulturelles verbindet.

Genau dies ist eine wesentliche Aufgabe der Kirchen, gerade in Dörfern und kleinen Städten. Sie sollten nicht nur für sich selbst da sein, sondern als Teil ihres Gemeinwesens wirksam werken. Und in der Tat, sie sind – allem Untergangsgerede zum Trotz – immer noch, vielleicht sogar immer mehr ein wichtiger Akteur, der für das soziale und kulturelle Leben ihres Ortes mit Verantwortung trägt und so Anerkennung auch bei kirchenfernen Nachbarn findet. Nur braucht es manchmal einen Anstoß von außen, eine frische Idee, damit die Kirchengemeinde mit den Menschen und Institutionen in ihrer Umgebung in eine Zusammenarbeit findet. In Aken zum Beispiel erlebt die St.-Nikolai-Gemeinde viel Offenheit. Die Religionsfeindlichkeit der untergegangenen DDR ist wirklich Geschichte: Die Kirche gehört zur Stadtgesellschaft. Allerdings sind natürlich erhebliche Traditionsabbrüche zu verzeichnen. Es gibt eine große Entfremdung, gerade bei den Jüngeren.

Hier setzt „Land:Gut“ an. An zwanzig Orten in den neuen Bundesländern führt mein Kollege im Kulturbüro der EKD, der Kunsthistoriker und Musiker Klaus-Martin Bresgott, dieses Projekt einer innovativen Förderung kirchen-kultureller Arbeit durch. Nun schon im zweiten Jahr. Es wird durch die BKM gefördert, weil dem „Haus Grütters“ sehr bewusst ist, welche Bedeutung Kirchengemeinden in ansonsten eher strukturschwachen Gebieten besitzen. Ursprünglich hatte man 2019 an ein einmaliges Pilotprojekt gedacht. Doch der Erfolg des ersten Durchgangs führte 2020 zu einer Neuauflage – und gerade wird für 2021 geplant. Unsere Projektpartner sind Kirchengemeinden oder kulturell aktive Vereine, die mit Kirchengemeinden zusammenarbeiten. Es geht uns nicht um kurzfristige „Erfolge“, sondern um gute Ideen, die wachsen können und so die kulturelle Eigenverantwortung der Region fördern. Unverzichtbare Ansprechpartner sind für uns die Pfarrerinnen und Pfarrer vor Ort. Wichtig sind aber auch die Kirchgebäude selbst als Symbole geistlich-kultureller Beheimatung. An ihnen „entzünden“ sich viele Projektideen, denn sie sind vertraut und fremd zugleich. Man kennt sie im Ort, seit je her. Aber weiß man wirklich, was in ihnen steckt und was man an ihnen hat?

Hebung eines Schatzes

Diese Frage war der Ausgangspunkt für das Projekt, das Klaus-Martin Bresgott in Aken mit Pfarrer Dr. Georg Neugebauer und seiner Gemeinde erdacht und durchgeführt hat. Die Gemeinde wollte ihre Kirche bekannter machen, etwas herausbringen, das den Akenern vor Augen führt, was für einen Schatz sie an St. Nikolai haben. Gemeinsam wurde ein innovativer Kirchenführer gestaltet. Er enthält alle notwendigen Informationen über die Geschichte der Kirche und die symbolische Bedeutung ihrer Kunstwerke, zum Beispiel des eindrucksvollen Marienaltars aus dem 

15. Jahrhundert. Zudem kommt er als schön gestaltetes Faltblatt charmant daher – man nimmt ihn gern in die Hand und möchte ihn gleich weiterschenken. 

Doch damit nicht genug. Um eine neue Vertrautheit zu stiften, wurden zwei Workshops mit der benachbarten Werner-Nolopp-Grundschule durchgeführt. Wieder zeigte sich, dass der Kirchengemeinde die Tür geöffnet wird, wenn sie mit einer guten Idee anklopft. Unter Anleitung von Klaus-Martin Bresgott erschlossen sich die Kinder die Kirche. Höhepunkt war die gemeinsame Gestaltung einer Nikolaus-Skulptur – mit Hilfe der Berliner Bildhauerin Moreen Vogel. Sie ist schon fertig und soll im Neuen Jahr einen Ort in der Kirche erhalten. Das ist keine kleine Sache, sondern ein wichtiger Impuls, um auch den Namen der Kirche neu ins Bewusstsein zu bringen. Er zeigt an, wie tief der Brunnen der eigenen Geschichte ist und dass man zu einem deutschland- und europaweiten Netz von Nikolai-Kirchen gehört. Zugleich kann man wunderbare Geschichte über den Namensgeber erzählen, die bei Kindern spontan für Interesse und Sympathie sorgen, aber auch – wie sollte es bei einer alten Elbschifferstadt anders sein – weit darüber hinaus. 

Dr. Johann Hinrich Claussen ist Kulturbeauftragter der Evangelischen Kirche in Deutschland. Zu seinen Büchern gehören „Gottes Klänge. Eine Geschichte der Kirchenmusik“ (C.H. Beck 2014) und „Streifzüge 

durch das Land Fontanes“ (Monumente Publikationen 2019). Zuletzt erschien „Die seltsamsten Orte der Religionen. Von versteckten Kirchen, magischen Bäumen und verbotenen Schreinen“ (C.H. Beck 2020).

www.kulturkirchen.org