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18.12.20 / Zeichen der Hoffnung / Die Wiederherstellung evangelischer Kirchen im nördlichen Ostpreußen und die Lage der Evangelisch-Lutherischen Kirche im Königsberger Gebiet rund dreißig Jahre nach dem Ende der Sowjetunion

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 51/52 vom 18. Dezember 2020

Zeichen der Hoffnung
Die Wiederherstellung evangelischer Kirchen im nördlichen Ostpreußen und die Lage der Evangelisch-Lutherischen Kirche im Königsberger Gebiet rund dreißig Jahre nach dem Ende der Sowjetunion
Erhard Wolfram

Eine Frau ist mit ihrem Sohn in einer Königsberger Straßenbahn auf dem Prospekt Mira, der früheren Hufenallee, unterwegs. In einer Straßenkurve sehen sie zwischen Bäumen auf der linken Seite ein großes neues Gebäude. „Ist das ein Schloss?“, fragt der Junge. „Nein, das ist vielleicht eine Moschee“, sagt die Mutter. Gemeint war die neue „Auferstehungskirche“ der Evangelisch-Lutherischen Kirchengemeinde Kaliningrad, die zugleich Sitz der Propstei im heute russischen Teil Ostpreußens ist. 

Inzwischen ist die kleine Episode einige Jahre her, wahrscheinlich wäre heute dem Jungen vielmehr auf der rechten Seite die neue orthodoxe Kirche mit ihren 56 Meter hohen Kuppeln aufgefallen, die am 1. Advent 2020 nach 13-jähriger Bauzeit eingeweiht worden ist. Damit wird zugleich optisch deutlich, wer heute konfessionell „das Sagen“ im Kaliningrader Gebiet hat. In den wichtigsten Städten der Oblast sind in den letzten Jahren einige neue russisch-orthodoxe Kirchen gebaut worden mit ihren weithin sichtbaren vergoldeten Kuppeln. 

Evangelisches Kerngebiet

Das nördliche Ostpreußen mit seiner jüngsten Entwicklung ist in der heutigen Bundesrepublik weithin vergessen, obwohl das Gebiet in den früheren Jahrhunderten große historische  Bedeutung hatte. Im Jahre 1231 begann der Deutsche Orden mit der Eroberung und Christianisierung des Siedlungsgebietes der heidnischen Pruzzen sowie mit dem Ausbau eines eigenen geistlichen Ordensstaates. 1255 erreichten die Ritter unter der Führung von Hochmeister Poppo von Osterna das Gebiet der Pregelmündung und errichteten auf dem Berg Tuwangste eine Burg. 1297 baute der Orden in der allmählich wachsenden Stadt eine Kathedrale, die schon 1327 durch einen Neubau ersetzt wurde – den heutigen Königsberg Dom. 

Nach Jahrhunderten katholischer Zeit wandelte der letzte Hochmeister des Ordens, Albrecht von Brandenburg-Ansbach, den Ordensstaat 1525 in ein weltliches Herzogtum – und gründete, in engem Kontakt zum Reformator Martin Luther stehend, in Ostpreußen die erste evangelisch-lutherische Landeskirche der Welt. Lediglich das Ermland blieb als eigenes Bistum katholisch. 1544 gründete Herzog Albrecht in Königsberg eine Universität, die „Albertina“, von der in den folgenden Jahrhunderten weithin ein freiheitliches Denken mit evangelischer Prägung ausging. Immanuel Kant ist sicherlich der bekannteste Vertreter dieser besonderen Königsberger Geisteshaltung. In jedem größeren Dorf Ostpreußens gab es eine Kirche, und für die meisten Familien gehörte der Gottesdienstbesuch zum Sonntag. 

Zwischen dem Ersten und Zweiten Weltkrieg gab es in Ostpreußen eine Zeit, die besonders geistlich geprägt war von engen Beziehungen zur Kirche und christlichen Gemeinschaften mit Bibelstunden, Kinder- und Jugendarbeit sowie Zeltevangelisationen. Es gab zahlreiche Diakonissen-Mutterhäuser, in denen Frauen zum praktischen Dienst christlicher Nächstenliebe an Alten und Kranken ausgebildet wurden. 

Zur Zeit des Nationalsozialismus waren in Ostpreußen die Gegensätze zwischen den „Deutschen Christen“ und der „Bekennenden Kirche“ besonders stark, manchmal ging der Riss auch quer durch die Familien. Henriette Piper, Enkeltochter Hugo Lincks, hat erst im vergangenen Jahr über dessen Leben als „Der letzte Pfarrer von Königsberg“ einen eindrucksvollen Bericht vorgelegt (be.bra verlag 2019). 

Kirchen in gottloser Zeit

Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs sowie nach Flucht und Vertreibung der angestammten deutschen Bevölkerung waren von den 225 Kirchen Ostpreußens etwa ein Drittel zerstört, andere beschädigt, aber reparabel und einige unbeschädigt geblieben. Mehr und mehr jedoch begannen leerstehende Kirchen zu zerfallen. Etliche Kirchen wurden für landwirtschaftliche Zwecke eingesetzt, als Lagerhallen genutzt, einige sogar zu Fabriken umgerüstet. Der antichristliche Kurs des Sowjetregimes ließ das einstige Kerngebiet christlichen Glaubens in ein religiöses Brachland verkommen. Das ganze Ausmaß dieses Niedergangs haben Anatolij Bachtin und Gerhard Doliesen 1998 in ihrem Werk „Kirchen in Nord-Ostpreußen. Eine Dokumentation“ umfassend beschrieben. 

Nach dem Zusammenbruch der UdSSR 1991 durften die Kirchen wieder tätig werden. Zuwachs bekamen sie unter anderem durch russlanddeutsche Zuwanderer aus den ehemaligen Sowjetrepubliken und nun selbstständigen Staaten Kasachstan, Kirgisien und Aserbaidschan. Aus diesen Ländern kamen einige Tausend Landsleute ins Königsberger Gebiet. Mit Unterstützung der Evangelischen Kirche der Union (EKU), später auch der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) und des Gustav-Adolf-Werks in Sachsen (GAWiS) kam im Dezember 1991 der Dresdener Pfarrer Kurt Beyer nach Königsberg. Er sammelte die Zuwanderer in Kirchen, Schulen und Wohnungen zu Gottesdiensten. Rasch entstanden kleine Gemeinden. Die Lebensumstände waren für die zumeist mittellosen Neuankömmlinge keineswegs leicht: Sie lebten oft in einfachst eingerichteten Zimmern oder schlechten Wohnungen auf dem Lande, fanden nur wenige Arbeitsmöglichkeiten, und auch die Infrastruktur war unzureichend. 

Neuanfang in den 90er Jahren

Viele treue Helfer aus der Bundesrepublik von Kirchengemeinden, landsmannschaftlichen Gruppen, Hilfsorganisationen und einzelnen Familien sowie auch die „Gemeinschaft evangelischer Ostpreußen“ (GeO) unterstützten die Gemeinden der entstehenden Propstei Königsberg/Kaliningrad mit gebrauchter Kleidung, Beihilfen für Kühe, Medikamenten sowie Hilfszahlungen in besonderen Notlagen. Über viele Jahre hinweg erfolgten Hilfstransporte. 

Heute gibt es vier evangelische Gemeinden im nördlichen Ostpreußen: neben Königsberg mit der um 2000 errichteten Auferstehungskirche auch in Gumbinnen [Gussew] mit der Salzburger Kirche sowie in Mühlhausen [Gwardeijs-koje], in der im 16. Jahrhundert Martin Luthers jüngste Tochter Margarete Pfarrersfrau wurde, und in Groß Legitten [Turgenjewo] bei Labiau [Polessk]. Die Wiederentstehung der Legitter Kirche ist vor allem Frau Prof. Dr. Margarethe Pulver zu verdanken, die aus diesem Ort stammt und mit ihrem Förderverein aus einer Ruine wieder eine Kirche hat entstehen lassen. Neben Königsberg entwickelte sich vor allem Gumbinnen zu einem wichtigen Schwerpunkt. Rund 110 Kilometer östlich von Königsberg entfernt, wurde hier die Salzburger Kirche von einer Autowerkstatt zurück zu einer Kirche umgebaut. 1732 waren hier einige tausend Menschen aus dem Salzburger Land angesiedelt worden, die zuvor wegen ihres evangelischen Glaubens aus ihrer Heimat vertrieben worden waren. Neben dem Gotteshaus unterhält die Propstei heute dort eine eigene diakonische Sozialstation, in der Gemeindeschwestern alte und kranke Menschen pflegen. 

Neben den Kirchen gibt es in der evangelischen Propstei einige Gemeindehäuser, in denen sich kleine Gemeinden treffen. In der Aufbruchzeit nach der Wende gehörten in gut 40 Gemeinden etwa 2000 Mitglieder zur Propstei. Inzwischen sind viele Familien in die Bundesrepublik ausgereist. Anfangs haben deutsche Pfarrer die Propstei geleitet und Gottesdienste in Russisch und Deutsch gefeiert. Jetzt ist Igor Ronge, ein Russe, der verantwortliche Propst. Zweisprachige Gottesdienste finden heute nur noch auf Anfrage in Königsberg und Gumbinnen statt. 

Kirchen in fremder Nutzung

Neben den genannten, heute zur evangelischen Propstei gehörenden Kirchen sind in den vergangenen Jahren zahlreiche weitere Gotteshäuser restauriert worden. Das bekannteste ist zweifellos der Königsberger Dom, der jedoch überwiegend als Kultur- und Konzerthaus genutzt wird – unter anderem mit einem kleinen Kant-Museum –, der jedoch auch eine kleine Kapelle für evangelische Gottesdienste hat. Das Prunkstück des Doms ist die neue große Orgel, die von der berühmten Orgelbau-Werkstatt Schuke im brandenburgischen Werder geschaffen wurde. Auch andere Kirchen der Stadt wie die Luisenkirche (jetzt ein Puppentheater) oder die katholische Kirche zur Heiligen Familie (jetzt Philharmonie) werden für kulturelle Zwecke genutzt. 

Auch auf dem Lande gab und gibt es seit den 90er Jahren zahlreiche Projekte zum Wiederaufbau einstiger evangelischer Kirchen. Allerdings konnte die Russisch-Orthodoxe Kirche (ROK) im Jahre 2010 ein Gesetz erwirken, durch das sie in den Besitz zahlreicher dieser Kirchen gekommen ist. Zu nennen sind hier unter anderem die Katharinenkirche in Arnau [Marino], die Pfarrkirchen in Heinrichswalde [Slawsk] und Allenburg [Druschba] sowie in Groß Rominten [Krasnolessje]. Die Hauptkirche der russisch-orthodoxen Diözese Kaliningrad und Baltijsk [Pillau] ist jedoch die eingangs bereits erwähnte Christi-Erlöser-Kathedrale. 

Fazit und Ausblick

Rund dreißig Jahre nach dem Zusammenbruch des Kommunismus ist das kirchliche Leben im nördlichen Ostpreußen durchaus ambivalent zu beurteilen. Noch immer sind die Strukturen vor Ort fragil. Dies liegt jedoch keinesfalls nur an der Aneignung restaurierter Gotteshäuser durch die ROK, sondern auch an den evangelischen Christen selbst. Viele Russlanddeutsche haben Königsberg oft nur als Zwischenstation auf dem Weg nach Westen genutzt und sind in den vergangenen Jahren in die Bundesrepublik ausgewandert. So gibt es heute nur noch rund 600 Gemeindeglieder in etwa 20 kleinen Gemeinden. In der aktuellen Corona-Pandemie ist selbst dieses geringe Gemeindeleben stark eingeschränkt. 

Gleichwohl sollte man mit Klagen zurückhaltend sein. Denn betrachtet man die Ausgangslage zu Beginn der 90er Jahre, als es praktisch keinerlei religiöses Leben gab, ist es erstaunlich, was in der Zwischenzeit alles entstanden ist. 

Pfr. Erhard Wolfram ist 1. Vorsitzender der Gemeinschaft evangelischer Ostpreußen (GeO). Von 1999 bis 2002 war er Propst der Evangelisch-Lutherischen Propstei Königsberg. 

www.propstei-klg.com





Buch-Tipp

Aus der Pionierzeit des Neuanfangs evangelischer Gemeinden im nörd-lichen Ostpreußen berichtet in lebendiger Weise Luise Wolfram in ihrem Buch: 

Störche kennen keine Grenzen. Erlebnisse in Königsberg und im nördlichen Ostpreußen 240 Seiten, Tb., Brunnen-Verlag, ISBN: 978-3-7655-3834-6, 4,99 Euro.