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31.12.20 / Schicksalswahl in Krisenzeiten / Ein Dreivierteljahr vor der Stimmabgabe im Herbst 2021 ist die deutsche Gesellschaft fragmentiert wie nie zuvor. Damit wird die Bundestagswahl zur großen Wundertüte. Einen Vorteil dürften die Kräfte haben, die den Bürgern Sicherheit garantieren

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 53 vom 31. Dezember 2020

Schicksalswahl in Krisenzeiten
Ein Dreivierteljahr vor der Stimmabgabe im Herbst 2021 ist die deutsche Gesellschaft fragmentiert wie nie zuvor. Damit wird die Bundestagswahl zur großen Wundertüte. Einen Vorteil dürften die Kräfte haben, die den Bürgern Sicherheit garantieren
Klaus-Peter Schöppner

Seit zehn Monaten steckt Deutschland im Corona-Schock. Seit zehn Monaten ist die politische Stimmung, gemessen an der Sonntagsfrage, konstant wie Blei. Etwa 38 Prozent der Wähler würden sich heute für die Union, 20 für Grün, 15 für die SPD, etwa 9 für AfD und Linke aussprechen. Und die FDP hält sich mit 6 Prozent knapp über der Demarkationslinie.

In neun Monaten wird gewählt. Da stellt sich die Frage, ob die aktuellen Umfragewerte bereits den zu erwartenden Wahlausgang anzeigen? Kann sein – kann nicht sein; denn nie zuvor war die Unsicherheit über Thesen und Themen, über Politiker und Probleme größer als derzeit. Nicht nur die Unabwägbarkeit des weiteren Pandemieverlaufs, auch viele andere Fragezeichen bestimmen die Entwicklung bis zum voraussichtlichen Wahltag am 26. September 2021. 

Wandel der Maßstäbe 

Weil derzeit noch völlig offen ist, ob Corona zum Weck- oder Wendepunkt einer möglichen Veränderung unserer Gesellschaft wird: Die alte war geprägt durch das Prinzip der „Kapitalrendite“: Banken, Wirtschaft, Wachstum waren die Treiber der gesellschaftlichen Entwicklung. Tritt nun an deren Stelle die „Sozialrendite“, bei der Gesundheit, Pflege, Versorgung die wichtigsten Plätze einnehmen? Sind Umwelt, Lebenssicherheit und soziale Annäherung die Ziele, die im Herbst ‘21 wahlentscheidend werden?

Zweites Fragezeichen: Die Kanzlerkandidatur. Wie schlägt sich die Union ohne Merkel-Bonus? Wer wird deren Nachfolgekandidat für das Amt des Regierungschefs? Und mit welcher Politikausrichtung? Wer wird den „Neuen“ attraktiv finden, wer geht verloren? Ist bei der SPD Olaf Scholz, der „rechte“ Finanzminister und wichtigste Befürworter der Großen Koalition, tragbar für die SPD-Linken? Und wer macht bei den Grünen das Kandidatenrennen?

Ist die Wahl nach der Wahl nicht im Grunde die spannendere? Wenn sieben Parteien in den Bundestag einziehen, ist zum Beispiel für SPD- und Grünen-Wähler völlig unklar, ob sie mit ihrer Stimme eher „rechts“ (Schwarz-Rot) oder „links“, also SPD-, Grüne- oder Linke-Inhalte gewählt haben.

Und wie verändert der nun vollständig digitale Wahlkampf das Abstimmungsverhalten? Wenn die Parteien wegen des Auflagenschwunds tradierter Medien nur noch die Älteren per Tageszeitung erreichen, dafür aber Chats und Blogs den Wahlkampf auf ein neues Skandalisierungslevel hieven? Dazu der öffentlich-rechtliche Bedeutungsverlust, der zwar den Grünen, der Lieblingspartei unserer Rundfunkanstalten, schadet. Andererseits bespielen sie wie auch die AfD das Netz nahezu perfekt, sodass die Wähler „online“ ständig grün-blau emotionalisiert werden. Die Last-Minute Effekte dürften dadurch 2021 eine neue Dimension erreichen. 

Kein allein entscheidendes Thema

Die Konsequenz des digitalen Informationsverhaltens: Es wird 2021 kein einzelnes wahlentscheidendes Thema mehr geben! Trotz Corona-Dominanz nennen die Wähler heute eine große Bandbreite teilweise absurder Themen auf die Frage nach den aktuell wichtigsten Problemen. So als hätte jeder sein eigenes Universum, das über sein Kreuz entscheidet, das andererseits aber fast täglich seine Bedeutung verändert. 

Viele dieser Themen lassen sich unter „Sicherheit“ zusammenfassen, wobei Corona als „Brandbeschleuniger“ wirkt. Bei vielen dieser Streitthemen stehen sich zudem oft zwei etwa gleich große Fraktionen unversöhnbar gegenüber. So unterstützt bei den Corona-Hilfen die eine Hälfte die Zig-Milliarden-Hilfsprogramme bedingungslos, während die andere vor den finanziellen Folgen warnt. Wie bei der Migrationsfrage ist unsere Nation zweigeteilt in die „Wir schaffen das“-Befürworter und diejenigen, die noch ein strenges „nicht“ hinzufügen. Die eine Hälfte der Beamten und sozial Abgesicherten durchläuft Corona ziemlich angstfrei. Die andere – viele Kleingewerbetreibende und prekär Beschäftigte – weiß nicht, wie sie durch das Jahr 2021 kommen soll. Die Deutschen sind fragmentiert wie nie zuvor. Und damit wird die Bundestagswahl zur großen Wundertüte.

Sicherheit statt Wechselstimmung

Verunsicherung, Fremdbestimmung, Unkenntnis und Komplexität sind die Begriffe, die die Gemütslage der Deutschen im Corona-Zenit am besten beschreiben. Und auf die die Parteien keine Antwort haben. Also halten sie wahlstrategische Ãœberlegungen für völlig verfrüht. Und konzentrieren sich schon jetzt auf die letzten drei Wochen vor der Wahl. 

Analysiert man dennoch die Chancen der Parteien, dann spricht vieles für eine erneute Kanzlerpartei CDU/CSU. Auch ohne Merkel bleibt sie mit Politikern wie Söder und Spahn die Krisenbewältigungspartei Nummer eins, klar vor der SPD, klar vor den Grünen: „Wer wird Deutschland gut durch Krisen führen?“ Mehr als die Hälfte der Befragten nennt auf diese Frage die Union, nur etwa jeder Zehnte SPD oder Grüne. Egal ob Wirtschaft, Arbeitsplätze, selbst Soziales, überall erhält die CDU die höchsten Kompetenzwerte. Und bei der Frage, ob den Deutschen eine von der Union oder der SPD geführte Regierung lieber wäre, vergrößerten CDU und CSU ihren Vorsprung in der Krise auf 41 zu 18 Prozent. Die Regel: Je krisenhafter die Zeiten, desto besser für die Union, hat auch aktuell Bestand. Nur CDU und CSU werden mit „Regierungspartei“ assoziiert. In Krisenzeiten gibt es keine Wechselstimmung!

Deutlich schlechter die Ausgangsposition für die SPD: Ihr Umverteilungsdogma wird umso unpopulärer, je mehr Bürger Aussicht auf gute Bildung erhalten. Ihre Chance, von der „Arbeiterpartei“ zur „Sozialarbeiter- oder Arbeitnehmerpartei“ zu mutieren, haben die Sozialdemokraten längst verpasst, zu gering war die Wählerresonanz auf ihre Sozialwohltaten der letzten Zeit. In dieser Hilflosigkeit verstummen die Stimmen vom Ausstieg aus der Koalition in dem Maße, wie sich andere Machtoptionen minimieren. Die einzige Chance der SPD ist Olaf Scholz, sollte es den Genossen gelingen, sich mit ihm als dem „neuen Merkel“ gegen einen „rechten“ CDU-Kandidaten zu profilieren. Und so um die Arbeitnehmer der Mitte zu kämpfen. 

Das fragile grüne Lebensgefühl

Längt nicht so rosig, wie es Sonntagsfragen-Werte um 20 Prozent vermuten lassen, ist die Situation der Grünen. Richtig ist, dass keine Partei in den letzten Jahren unser Land stärker verändert hat, dass die Grünen bei vielen Themen den Wählernerv treffen, dass sie einen relativ hohen Stammwähleranteil aufweisen. Richtig ist aber auch, dass „grün“ mit „jetzt wird’s teuer“ assoziiert wird und sie weiterhin als Öko-, nicht aber als „Volkspartei“ gelten. Ihr größtes Problem: Die ambivalenten Koalitionswünsche ihrer Wähler: Ein Drittel will die Koalition mit der Union, ein Viertel Rot-Rot-Grün, 43 Prozent sind noch völlig unentschlossen. 

Gefährlich wird es, wenn die Wähler ihre Strategie der parteipolitischen Flexibilität, um sich die Regierungsoptionen mit Schwarz und Rot offenzuhalten, durchschauen. Da kann leicht aus einer Politik der Mitte ein Kurs der Beliebigkeit werden, wie zuletzt deutlich erkennbar bei der grünen Sprachlosigkeit beim Weiterbau der A 49 in Hessen. Die Wahltaktik der Konkurrenz ist damit klar: die Grünen bei ihren Widersprüchlichkeiten zu stellen. Als weiteres Damoklesschwert kann sich die Pandemie-Finanzierung erweisen: Kann sich Deutschland in den nächsten Jahren noch teure grüne Politik leisten? 

Eines allerdings kann die Doppelspitze der Partei aus Annalena Baerbock und Robert Habeck auf ihrer Habenseite verbuchen: Sie drückt das Lebensgefühl weiter Wählerkreise nahezu perfekt aus: Eine große Mehrheit der Deutschen will nicht sein wie Scholz, Esken oder Walter-Borjahns, nicht wie Laschet oder Merz. Ganz eindeutig spricht die Alltagstauglichkeit für die grünen Vorsitzenden, sodass sie derzeit sowohl im progressiven wie konservativen Milieu punkten können. 

Chancen der Opposition

Die FDP leidet unter dem „Keiner hört mehr auf uns“-Syndrom: Als Regierungsverweigerer findet sie im Krisenmodus keine Resonanz, weil Corona emotionalisiert, rationale Themen wie Steuern und Sparen also nicht das Ohr der Wähler finden. Zudem werden die Liberalen nicht als Koalitionsoption benötigt, solange eine Zweierkoalition aus Union mit Grün oder SPD vorstellbar bleibt. Allerdings könnten sie diesmal wieder von der Psychologie der Fünf-Prozent-Marke profitieren. Und von der Hoffnung auf das Ende der Corona-Pandemie, das schlagartig wieder Themen wie die Stärkung unserer Wirtschaft in den Fokus stellt. 

Die Linkspartei wiederum beschäftigen ganz andere Probleme: Eigentlich müsste sie ihre Wahlkampfstrategie festlegen. Doch ausgerechnet jetzt ist sie führungslos: Katja Kipping und Bernd Riexinger verlassen die politische Bühne. Doch die neuen Vorsitzenden sind – Corona-bedingt – noch nicht gewählt. Keiner da, der die Linke durch das Superwahljahr führt und Chancen für das mögliche erste Rot-Rot-Grün auf Bundesebene austariert. Zudem interessiert sich kaum jemand für die „Verteilkompetenz“ der Partei, wenn es erst mal nichts mehr zu verteilen gibt. 

Und die AfD? Bleibt das Schmuddelkind der Politik, das weiterhin nicht für gute Ideen, sondern seiner Wutbürger-Attitüde wegen gewählt wird. Stark ist die Partei unter den Corona-Ignoranten, „Querdenkern“, Einwanderungs-, Islam- und Sozialkritikern. So bitter es sein mag: Aber AfD-Wähler stören sich zuletzt am Radikalismus und den Entgleisungen ihrer Protagonisten. Hauptsache, die Partei bleibt laut und lästig. 

Historische Fragen

Dank Corona wird die Bundestagswahl am 26. September 2021 eine der wichtigsten der letzten Jahrzehnte sein. Denn im Grunde wird über nur eine, dafür aber gewaltige Grundsatzfrage entschieden, die als Corona-Folge ganz in den Fokus rückt:  Wie viel Staat ist möglich – wie viel Staat ist nötig? Uns erwarten also zwei hitzige Debatten: Was können wir uns noch leisten? Und wie stark müssen wir umverteilen? Diese Auseinandersetzung wird umso greller, komplexer und langanhaltender, je immenser die Corona-Kosten werden.

An guten Tagen gewinnt das Lebensgefühl. 2021 ist Schadensbegrenzung gefragt.

Klaus-Peter Schöppner ist seit 2014 Geschäftsführender Gesellschafter des Meinungsforschungsinstituts Mentefactum. Von 1990 bis 2013 war er Geschäftsführer von TNS Emnid. 

www.mentefactum.com