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31.12.20 / Ode an die Un-Freude / Das Murmeltier grüßt nicht mehr – Im Jahr 2020 kam alles anders als gedacht. Wird es im neuen Jahr anders sein?

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 53 vom 31. Dezember 2020

Ode an die Un-Freude
Das Murmeltier grüßt nicht mehr – Im Jahr 2020 kam alles anders als gedacht. Wird es im neuen Jahr anders sein?
Harald Tews

Es gibt ihn tatsächlich, diesen Murmeltiertag. Immer am 2. Februar wird in Punxsutawney im US-Bundesstaat Pennsylvania ein Murmeltier aus der Höhle gelockt, dessen Erscheinen den weiteren Verlauf des Winters vorhersagen soll. Und es gibt diesen Film mit Bill Murray von 1993. In „Und täglich grüßt das Murmeltier“ sitzt er als TV-Wetterfrosch in einer Zeitschleife fest und muss diese tierisch eintönige Zeremonie immer und immer wieder über sich ergehen lassen.

Ähnliche Déjà-vu-Erlebnisse hatten auch die Zeitungs-Auguren bislang stets bei Jahresende. Waren nicht viele Ereignisse so vorhersehbar wie der nächste Meistertitel des FC Bayern? Olympische Spiele, Welt- und Europameisterschaften, Kulturfestivals, Kinoblockbuster, Jubiläumsfeiern und Weihnachtsfeste sind so sicher wie das Amen in der Kirche. Dachte man. Dann kam das Jahr 2020. Und nichts war mehr so wie vorher.

Das Undenkbare, das, was kein Weissager prophezeit hatte, trat ein: Die Olympischen Spiele in Tokio fielen ebenso aus wie die Fußballeuropameisterschaft mit Spielbegegnungen auch in München; es gab keine Bayreuther Festspiele; Konzerte, Theater- und Kinopremieren – fast alles abgesagt oder nur vor einem kleinen Publikum möglich; Ausstellungen hat man auf unbestimmte Zeit verschoben oder fanden nur im digitalen Raum statt; in Berlin hat man ein Schloss wiederaufgebaut, aber keiner darf seit der digitalen „Eröffnung“ des Humboldt-Forums im Dezember rein; das Beethoven-Jubiläum, das man mit viel Aufwand feiern wollte,  wurde zu einer einzigen Ode an die Un-Freude; Weihnachtsmärkte hat man schnell wieder abgebaut; große Silvesterpartys wird es nicht geben, selbst das Verreisen in ferne Länder hat man uns verboten oder wir verkneifen es uns freiwillig.

Der Zeitschleife entronnen

Wäre das Jahr für die meisten Restaurant-, Bar- und Ladenbesitzer sowie Künstler und älteren Menschen nicht so tragisch verlaufen, könnte man davon sprechen, dass man endlich aus einer Zeitschleife ausgebrochen wäre. Die Welt ist zum Stillstand gekommen, es ist, als hätte jemand den Pausenknopf gedrückt. Eine Zeit des Verschnaufens ist eingeläutet, ein aufgezwungenes Sabbatjahr, das für die meisten von uns aber nur Stress bedeutet. Für Erholung braucht man Urlaub oder den Kunstgenuss – beides hat man uns im Krisenjahr 2020 genommen. 

Krisenjahr? Ist das nicht ein verharmlosender Ausdruck? Ist es nicht eher so, dass sich die Welt wie in einem Kriegszustand befindet? Ein Dritter Weltkrieg, bei dem sich die gesamte Menschheit gegen eine unsichtbare Macht zur Wehr setzen muss, bei dem wir mit „AHA“-Kanonen auf Viren schießen, mit Virologen und Epidemiologen als unerfahrene Generäle, denen eine einheitliche Strategie fehlt, bei dem alle auf eine Wunderwaffe namens Impfstoff hoffen, bei dem wir für diese Notzeit hysterische Hamsterkäufe tätigen und Unmengen von Toilettenpapier horten und bei dem wir als Gasmaske den Mund-Nasen-Schutz aufziehen?

Und bei dem es Kriegsgewinnler gibt: die Pizza-Services, die Online-Kaufhäuser wie Amazon, die Verpackungsindustrie, die Paketzusteller, die Goldhändler. Dafür liegt die gesamte Reise- und Kulturbranche brach. Die große Party, die vielen Unternehmen jährliche Milliardengewinne bescherte, ist vorbei. Rückblickend kommt es einem so vor, als hätte sich die ganze Welt bis zum Jahr 2020 permanent im Partymodus befunden. Die Frage ist nur, was und warum wir die ganze Zeit gefeiert haben. Weil das Geld floss?

Vielleicht war es Zeit, dass wir mit der Wucht des Dampfhammers auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt wurden. Dieses Innehaltens lässt uns Zeit zum Luftholen und Nachdenken. Haben wir in diesem Jahr etwas versäumt? Haben wir mit neuen Rekorden, Goldmedaillen und Dopingskandalen bei den ausgefallenen Sportereignissen wirklich Wesentliches verpasst? Es wären doch nur die üblichen sportlichen Eintagsfliegen gewesen.

Diese Fliegen, das wissen die Auguren, werden wiederkehren. Die Olympischen Spiele sollen nun 2021 in Tokio stattfinden, ebenso wurde die Fußballeuropameisterschaft auf das neue Jahr verschoben. Notfalls vor leeren Arenen als reine TV-Show, Hauptsache die Einnahmen stimmen. Geisterspiele eben. Auch so ein Wort, das wir neu in unser Vokabular aufgenommen haben wie Corona-Pandemie, Coronaleugner, Lockdown, Shutdown oder systemrelevant.

Sicher ist auch, dass die Kultur wieder anlaufen wird – und muss. Fragt sich nur, wie. Die Berlinale, so viel weiß man schon, wird es zweigeteilt geben, als digitale Vorstellung vor Fachpublikum im März und ganz real mit Kinozuschauern im Juni. Erfindungsreichtum ist gefragt, um dem Virus ein Schnippchen zu schlagen. Das gilt für die Italiener, um den 700. Todestag Dante Alighieris, für die Franzosen, um den 200. Todestag Napoleons und den 200. Geburtstag Flauberts, sowie für die Russen, um den 200. Geburtstag Dostojewskis angemessen zu würdigen. 

Wie es genau weitergeht, weiß wohl keiner. Der Winter unseres Corona-Missvergnügens könnte noch lange andauern, denn das Murmeltier grüßt nicht mehr.