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31.12.20 / Anton Philipp Reclam / Klassik zum kleinen Preis / Vor 125 Jahren starb der Gründer des Verlags Philipp Reclam jr

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 53 vom 31. Dezember 2020

Anton Philipp Reclam
Klassik zum kleinen Preis
Vor 125 Jahren starb der Gründer des Verlags Philipp Reclam jr
Manuela Rosenthal-Kappi

Wer Goethes Faust oder Schillers Wilhelm Tell in der Schule durchgenommen hat, wird an den gelben Reclam-Heftchen, die als „Reclams Universal-Bibliothek“ in die Buchhandelsgeschichte eingegangen sind, kaum vorbeigekommen sein. 

Die Absicht des Verlagsgründers Anton Philipp Reclam (1807–1896), klassische Literatur zu niedrigem Preis herauszugeben, wurde zum Erfolgsrezept. Die kleinformatigen Bändchen der Universal-Bibliothek (UB) bieten bis heute nicht nur einen preiswerten Zugang zu Werken der deutschen Klassiker wie Goethe, Schiller, Lessing, Kleist oder Keller, sondern auch der anderer Nationalliteraturen, etwa Homer, Dante, Platon, Shakespeare, Molière, Ibsen oder Dostojewskij. 

Der Familie lag die Beschäftigung mit Büchern offenbar im Blut, denn Anton Philipps Vater Carl Heinrich Reclam (1776–1844) betrieb in Leipzig eine Buchhandlung für französische Literatur und einen Verlag. In die sächsische Metropole war die Hugenottenfamilie aus Savoyen über die Schweiz und Preußen gelangt. Bevor Anton Philipp seinen eigenen Verlag gründete, ging er bei seinem Onkel Friedrich Vieweg in die Lehre, der in Braunschweig einen Schulbuchverlag betrieb. Nach dem Abschluss der vierjährigen Buchhändler- und -druckerlehre kehrte er nach Leipzig zurück, lieh sich von seinem Vater das nötige Geld und kaufte am 1. April 1828 das „Literarische Museum“, damals eine Leihbibliothek. Diese bot neueste deutsche, französische, englische und italienische Literatur sowie Zeitungen und Zeitschriften an. Ein halbes Jahr später gründete Anton Philipp den „Verlag des Literarischen Museums“. 

Anlässlich des 100. Jubiläums des Reclam-Verlags urteilte Thomas Mann über die Anfänge im „Literarischen Museum“: „Das so genannte Museum war eigentlich kein Museum, sondern ein gefährlich lebensvoller Ort: eine Stätte der Lektüre, der Diskussion, der Kritik.“ 

1837 verkaufte Anton Philipp Reclam das „Literarische Museum“ und nannte seinen Verlag „Philipp Reclam jun.“, der Zusatz Junior sollte seinen Verlag von dem des Vaters unterscheiden. Reclam jun. verlegte politische, einem bürgerlichen Liberalismus verpflichtete Broschüren, die satirisch-unterhaltende Wochenzeitung „Charivari“ und die demokratische Wochenschrift „Leipziger Locomotive“. Letzterer wurde wegen demokratischer Aufrührigkeit kurz darauf die Konzession entzogen. 1846 verbot ein Hofdekret gar den Verkauf sämtlicher Reclam-Bücher in Österreich wegen der Verbreitung der „verwerflichsten staatsgefährlichen und verbrecherischsten Lehren“. Es kam noch schlimmer: Weil im Verlag die Ãœbersetzung von Thomas Paines „Das Zeitalter der Vernunft. Eine Untersuchung der wahren und unwahren Theologie“ erschienen war, verurteilte ein Leipziger Gericht Reclam jun. zu vier Monaten Gefängnis, die er jedoch dank der Wirren der Märzrevolution von 1848 nicht antrat. 

In den 1850er Jahren beendete er die Herausgabe oppositioneller Schriften. Das Verlagsprogramm verlagerte sich hin zu Büchern, die kostengünstig gedruckt werden konnten. Neben Liedersammlungen, Klavierauszügen von Opern, Bibelausgaben und Wörterbüchern erschien 1858 eine zwölfbändige Shakespeare-Ausgabe, die nicht zuletzt dank der fortschrittlichen Drucktechnik in der eigenen Druckerei günstiger als alle damals verfügbaren Ausgaben und daher äußerst erfolgreich war. Die Verkürzung der urheberrechtlichen Schutzfrist auf 30 Jahre (heute 70 Jahre) nach dem Tod eines Künstlers spielte Reclam in die Hände. Er hatte das Konzept der späteren UB geschaffen, die ab 1867 erschien. Band 1 war Goethes Faust I. Anton Philipp Reclam starb vor 125 Jahren, am

5. Januar 1896, im Alter von 88 Jahren in Leipzig. 

Sein Sohn Hans Heinrich lernte wie er selbst das Buchhandelswesen von der Pike auf, sodass er schon 1868 Teilhaber der Firma wurde und die UB gemeinsam mit seinem Vater ausbaute. Bis zu dessen Tod umfasste die UB 3470 Nummern. Hans Heinrich Reclam und dessen Nachkommen setzten die Erfolgsgeschichte des Verlags fort. Eine drastische Zäsur brachte das Dritte Reich. Viele Werke, vor allem jüdischer Autoren, durften nicht mehr erscheinen. Der aufmüpfige Geist des Verlagsgründers lebte in dessen Erben fort, denn in den im Einsatz befindlichen Feldbibliotheken, kleinen faltbaren Schränken mit Bänden der UB, befand sich Widerstandsliteratur gegen die Nationalsozialisten unter den Umschlägen versteckt.

Am 4. Dezember 1943 wurde das Leipziger Firmengebäude zu einem Drittel im Bombenhagel zerstört und das Hauptlager der UB vernichtet. Nach dem Krieg hielt der Verlagseigentümer Ernst Reclam noch am Standort Leipzig fest, doch die Zwänge in der sowjetischen Besatzungszone machten ihm die Entscheidung leicht, den Verlag in den US-amerikanischen Sektor nach Stuttgart zu verlagern. Seitdem gab es bis zur Reprivatisierung des Leipziger Stammhauses nach dem Mauerfall zwei Reclam-Verlage, einen in Leipzig und einen im neuen Verlagsgebäude in Ditzingen. Ende 2005 verkündete die Ditzinger Chefetage die Schließung des ehemaligen Stammhauses in Leipzig. 

Von der Bedeutung des Reclam-Verlags zeugen die Eröffnung eines Reclam-Museums 2018 in Leipzig gegenüber dem historischen Verlagsgebäude in der Kreuzstraße 12 sowie das Interesse des Deutschen Literaturarchivs Marbach an den Archiven des Verlags, die dieses kürzlich erwarb.