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31.12.20 / Kantomannia / Mit Kant und Mann gegen die Entfremdung / Das von der EU finanzierte litauisch-russische Projekt „Der Geist der Genius Loci Region“ ist den beiden Deutschen gewidmet

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 53 vom 31. Dezember 2020

Kantomannia
Mit Kant und Mann gegen die Entfremdung
Das von der EU finanzierte litauisch-russische Projekt „Der Geist der Genius Loci Region“ ist den beiden Deutschen gewidmet
Bodo Bost

Zwei prominente Deutsche, der Philosoph Immanuel Kant (1724–1804) sowie der Schriftsteller und Nobelpreisträger für Literatur Thomas Mann (1875–1955), verkörpern den Genius Loci ihrer jeweiligen Regionen, des Königsberger Gebiets in der Russischen Föderation und der Kurischen Nehrung in der Republik Litauen, wie kaum jemand anderes. 

Nun sollen sie helfen, die seit 1991 zwischen beiden Regionen aufgebaute Grenze zumindest kulturell zu überwinden. Deshalb finanziert die EU ein grenzüberschreitendes Kooperationsprojekt mit dem Titel „Der Geist der Genius Loci Region“ oder „KantoMannia“. Projektträger sind das litauische staatliche Museum „Neringa“ und die russische staatliche Organisation „Katedra“ in Königsberg.

In Judtschen/Kanthausen [Wesjolowka] ließen sich im 18. Jahrhundert viele hugenottische Einwanderer aus der französischen Schweiz nieder. 1714 entstand ein französisches Pfarramt. Der Philosoph Immanuel Kant hat hier von 1747 bis 1750 als Hauslehrer bei Pfarrer Daniel Ernst Andersch dessen Kindern Privatunterricht gegeben. Judtschen war einer der wenigen Orte außerhalb Königsbergs, die Kant im Laufe seines Lebens besucht hat. 

Die 1727 in dem Ort errichtete erste französisch-reformierte Kirche in Preußen verfiel nach 1945 und wurde 1985 abgerissen. Nach dem Zerfall der Sowjetunion 1991 verfiel das Pfarrhaus von Judtschen weiter. Erst ein kulturverachtendes Graffiti „Kant ist ein Trottel“ auf der Häuserwand des Pfarrhauses führte 2015 zu einem Aufschrei europäischer Medien. Das baufällige Gebäude erhielt von den russischen Behörden zunächst einen einbruchsicheren Zaun, dann wurde es dank Mitteln aus dem präsidialen Sonderfonds Putins komplett saniert und wiederaufgebaut. Auch die Gesellschaft der Freunde Kants und Königsbergs unterstützte den Wiederaufbau. Ein Mitglied der Kantgesellschaft, Dierk Loyal, dessen Familie aus Judtschen stammt, hat mit seinen profunden Kenntnissen die Rekonstruktion bereichert und diese dokumentiert. 

2019 fand im ehemaligen Pfarrhaus ein Museum seinen Platz, das die Geschichte der Besiedlung des ländlichen Ostpreußen im 18. Jahrhundert und später des Königsberger Gebietes unter sowjetischer Verwaltung dokumentiert. Während das Pfarrhaus in Hochglanz wiederaufgebaut wurde, verkommt der Rest des Dorfes weiter. Nur noch ganz wenige Häuser stehen in dem Ort. Auf dem Friedhof liegen russische und deutsche Gräber zerstört nebeneinander. Dort, wo früher die Kirche stand, führt jetzt eine ganz neu geteerte Straße entlang. Bis 2024, zum 300. Geburtstag des Philosophen, soll neben dem Pfarrhaus ein an Kant orientiertes wissenschaftliches Kommunikationszentrum für Schüler, Studenten und Lehrkräfte entstehen.

Anders als in Judtschen gibt es in Nidden auf der Kurischen Nehrung einen intakten Ortskern mit Kulturkontinuität. Ãœberragt wird der Ort, der nur wenige Kilometer nördlich der russischen Grenze liegt, durch das Thomas-Mann-Haus auf dem „Schwiegermutterberg“. Der aus Lübeck stammende Literat hatte sich das Haus 1930 mit dem Preisgeld seines Nobelpreises als Sommerresidenz von dem Memeler Architekten Herbert Reissmann bauen lassen. Thomas Mann verbrachte mit seiner Frau Katia drei Sommer, zwischen 1930 und 1932, in Nidden, inmitten einer deutschen Künstlerkolonie. Der litauische Schriftsteller Antanas Venclova (1906–1971), der Thomas und Katia Mann 1955 bei deren Besuch in Weimar begegnet war, rettete das Haus vor der Zerstörung durch die Sowjets. 

Nach dem Ende der Sowjetunion wurde das Gebäude durch Litauen wiederaufgebaut und 1998 als „Museum mit Begegnungscharakter“ durch Außenminister Klaus Kinkel eingeweiht. Heute sind an dem meistbesuchten Museum Litauensauch deutsche Fachkräfte tätig. 

Als beide Gebiete noch zur Sowjetunion gehörten, gab es nur eine innerstaatliche Grenze zwischen Nidden und Judtschen. 1991 entstand wieder eine Grenze zwischen souveränen Staaten quer durch die Kurische Nehrung, die 2004 mit dem Beitritt Litauens zur EU sogar zu einer EU-Außengrenze wurde, die nur noch mit Visum überquert werden konnte. Die Menschen in der Großregion, ob Russen, Litauer oder Deutsche, entfremdeten sich zunehmend. Jetzt sollen die Menschen auf beiden Seiten der EU-Außengrenze mithilfe der alten deutschen Geschichte der Region, die wie Kant und Mann universell war und in die Welt hinausstrahlte, wieder zueinander finden.

Mithilfe moderner Medien soll der lokale Geist, der Genius loci, als Vermittler der Universalität des kulturellen Erbes der Region dienen. Zum „KantoMannia“-Projekt gehören eine Vielzahl von Aktivitäten, von neuen Ausstellungen bis hin zu kostenlosen Führungen zwischen den beiden Orten und Staaten. Das Projekt zielt auch darauf ab, die Kommunikation zwischen den Menschen beider Staaten durch gemeinsame Veranstaltungen wieder zu fördern. Eine attraktive, moderne Touristenroute Memel–Schwarzort–Nidden–Königsberg–Judtschen soll angeboten werden. Ein Großvater des berühmten Philosophen, Hans Kant, stammte aus Memel. In diesem Jahr wurde erst einmal im virtuellen Raum begonnen, seit dem Ausbruch der Corona-Pandemie ist die Grenze geschlossen. Laut den Projektträgern hat dies den internationalen Kreativprozess jedoch nicht behindert. Das Projektbudget beträgt zirka 400.000 Euro.