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08.01.21 / Reich der Mitte / Ein anderer Blick auf China / Der Volkswirtschaftler Wolfram Elsner liefert Fakten, die von den Medien meist nicht gesehen werden

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 01-21 vom 08. Januar 2021

Reich der Mitte
Ein anderer Blick auf China
Der Volkswirtschaftler Wolfram Elsner liefert Fakten, die von den Medien meist nicht gesehen werden
Wolfgang Kaufmann

Zugegeben: Streckenweise liest sich das Buch „Das chinesische Jahrhundert“ über den einzigartigen Aufstieg des „Reiches der Mitte“ von einem rückständigen Entwicklungsland zur Weltmacht, als wäre es von übereifrigen Regierungs- oder Parteipropagandisten in Peking verfasst worden. 

Doch der Professor für Volkswirtschaftslehre und frühere Leiter des Bremer Landesinstituts für Wirtschaftsforschung Wolfram Elsner bietet im Laufe seiner Darstellung immer wieder bemerkenswerte Fakten auf, welche belegen, dass China nicht nur anders als der Rest der Welt ist, sondern sich tatsächlich auch auf dem besten Wege befindet, der westlichen Konkurrenz den Rang abzulaufen. Das zeigen nicht zuletzt die Vergleiche mit der in jeder Hinsicht verkrusteten derzeitigen Bundesrepublik, die Elsner als Refugium der „staatlichen Dequalifizierung“ und der „um sich greifenden Deinvestitionen“ bezeichnet, in dem der Betrachter allerorten auf das „Elend der neoliberal ruinierten Infrastrukturen“ stoße.

Verkrustetes Deutschland

Hierzu einige Beispiele: Während im Merkel-Land fast anderthalb Jahrzehnte verstreichen mussten, bis dessen Hauptstadt einen neuen funktionstüchtigen Flughafen bekam, stampfen die Chinesen solche Airports binnen zwölf Monaten aus dem Boden – und zwar mehrere davon! Der Bau von insgesamt 426 Kilometern Bahn-Neubaustrecke zwischen Würzburg und Hannover oder Stuttgart und Mannheim währte geschlagene 17 Jahre. In der gleichen Zeit entstanden in China 20.000 Kilometer Schnellfahrstrecke, über die nun Züge rauschen, welche mehr als 400 Stundenkilometer erreichen können. Während bei uns über E-Mobilität schwadroniert wird, surren in China 90 Prozent aller Elektrobusse der Welt. In Deutschland kränkelt oder stirbt der Wald – dahingegen wuchs die Waldfläche im „Reich der Mitte“ in den letzten drei Jahrzehnten von 17 auf 23 Prozent des Landesterritoriums, welches zu einem erheblichen Teil aus Wüsten besteht, die dadurch nun massiv zurückgedrängt werden. 

In China erscheinen pro Jahr sechs Mal so viele Forschungsarbeiten zum Thema Künstliche Intelligenz wie im Mutterland des Computers. Chinesische Leiharbeiter erhalten grundsätzlich den gleichen Lohn für die gleiche Tätigkeit wie Festangestellte, und männliche Beschäftigte können mit 60 in Rente gehen, Frauen sogar noch fünf Jahre eher. Apropos Frauen: 44 Prozent aller Manager in den mittleren und oberen Führungsebenen in China sind weiblich – und das ganz ohne jede staatlich oktroyierte Quote.

Vor diesem Hintergrund kann es durchaus nicht schaden, einmal ganz unbelastet von all den Vorurteilen, welche die Mainstream-Medien unentwegt verbreiten, auf China zu schauen. Das Land hat definitiv mehr zu bieten als Polizeigewalt gegen „Aktivisten“ in Hongkong, Tibet und der Uiguren-Provinz Xinjiang oder Repressionen gegen „Künstler“ wie Ai Weiwei. Ebenso sollten jene deutschen Politiker, die mit Blick auf das Riesenreich hinter der Großen Mauer ständig von „Polizei- und Überwachungsstaat“ reden, ab und an einen kritischen Blick auf den desolaten Zustand der freiheitlich-demokratischen Grundordnung innerhalb der eigenen Landesgrenzen werfen. Was ist an der BND- und NSA-Bespitzelung der Menschen hierzulande demokratisch? Und inwiefern stehen die Bundestrojaner, welche von den Sicherheitsbehörden auf die Rechner und Handys der Bürger dieses Staates geschmuggelt werden können, für Freiheit?

China durch die rosarote Brille

Andererseits darf die Brille, durch die wir von hier aus auf den erwachten Riesen in Fernost schauen, aber auch nicht rosarot eingefärbt sein wie die von Elsner. Vieles am chinesischen Wesen, an dem die Welt nach Meinung des Bremer Professors genesen soll, kann keinesfalls der Maßstab für die weitere Entwicklung der westlichen Demokratien sein, so erbarmungswürdig diese heute oft auch wirken. 

Man denke da nur an die Todesstrafe in China, wo pro Jahr mehrere tausend Menschen aufgrund von 55 möglichen Straftatbeständen hingerichtet werden, die Militarisierung und rigide soziale Disziplinierung der Gesellschaft sowie das Umsichgreifen einer blindwütigen Konsummentalität im Reich der Mitte. Und nicht wenigen Prestigeprojekten Pekings scheint ein ganz ähnliches Schicksal beschieden zu sein wie dem neuen Berliner Flughafen: Was ist eigentlich mit dem bemannten Raumfahrtprogramm Chinas, das so fulminant begann und jetzt offenbar stagniert? Wann erfolgt der schon vor Jahren angekündigte Start des ersten Moduls der großen Raumstation „Tiangong 3“? Ebenso unerwähnt bleibt bei Elsner das militärische Säbelrasseln der Volksrepublik gegenüber ihren Nachbarn und den USA, welches zu einem Wettrüsten geführt hat, das gigantische Summen verschlingt. Wenn Peking so sehr auf Harmonie und das Herbeiführen von Win-Win-Situationen aus ist, wozu braucht es dann Waffensysteme, mit denen es theoretisch die ganze Welt in den Abgrund reißen könnte?

Das alles sind keine zu vernachlässigenden Petitessen oder Kinderkrankheiten des angeblich so zukunftsträchtigen chinesischen Systems. Manchmal ist der Kaiser China immer noch nackt, manchmal ein Erpresser oder Kriegstreiber und nicht selten gar ein gnadenloser Henker. An dieser Tatsache kommt niemand vorbei – auch wenn der Westen ebenfalls schwere Defizite aufweist und daher von seinem hohen Ross herabsteigen sollte. Insofern schießt Elsner um einiges übers Ziel hinaus. Trotzdem sollte jeder, welcher mehr über China wissen will als unsere Mainstream-Medien gewöhnlich zu verlautbaren geruhen, sein Buch unbedingt lesen.

Wolfram Elsner: „Das chinesische Jahrhundert. Die neue Nummer eins ist anders“, Westend Verlag, Frankfurt/Main 2020, broschiert, 384 Seiten, 24 Euro